Aggelos Kapellos: Xenophon on Violence (= Trends in Classics - Supplementary Volumes; Bd. 88), Berlin: De Gruyter 2019, VI + 204 S., ISBN 978-3-11-067141-4, EUR 89,95
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Seit einigen Jahren ist ein wiedererstarkendes Interesse an der antiken Historiografie in der altertumswissenschaftlichen Forschung erkennbar. Die antiken Geschichtswerke werden nicht mehr in erster Linie als Steinbrüche für Informationen angesehen, die vor allem auf ihre Glaubwürdigkeit hin geprüft werden müssen. Vielmehr werden sie verstärkt als künstlerische Werke wahrgenommen, die das soziale Gedächtnis von Gruppen und Gesellschaften prägten und daher als kulturelle Artefakte hinsichtlich ihrer Erzähltechniken und Literarizität zu untersuchen sind. Demgemäß sind zuletzt zahlreiche Monografien und Sammelbände zu einzelnen Autoren entstanden. [1] Der Band von Aggelos Kapellos über Xenophon ordnet sich in diesen Trend ein [2] und stellt mit physischer Gewalt zudem ein Phänomen in den Mittelpunkt der Betrachtung, das seit geraumer Zeit viel Aufmerksamkeit von der Forschung erfahren hat. [3]
Die einzelnen Beiträge sind durchweg von guter Qualität und setzen sich nahezu alle aus einer Vielzahl von Blickwinkeln mit dem Oberthema des Bandes auseinander. Eine solche Kohärenz ist für Sammelbände leider eine Seltenheit. Schade ist es deshalb, dass Aggelos Kapellos sich in seiner Einleitung darauf beschränkt, die einzelnen Beiträge kurz vorzustellen und auf eine Synthese der Ergebnisse im Hinblick auf Xenophons Œuvre, seine Erzähltechnik und Denkweise verzichtet.
Der Band umfasst insgesamt zehn Beiträge, die sich vor allem auf die Hellenika und Xenophons weitere historische Schriften konzentrieren. Dieser Fokus ist verständlich, auch wenn etwa die Memorabilia zahlreiche Hinweise zur Fundierung der hier thematisierten "violence in practice" (3) bieten würden und man so die Chance vertan hat, ein möglichst umfassendes Bild von Xenophons Einstellungen und Darstellungen hinsichtlich der Gewalt zu erhalten.
Der Ausgangspunkt des Bandes ist gut gewählt. Cinzia Bearzot widmet sich in ihrem Beitrag den Belegen für bía und hýbris in den Hellenika und anderen Schriften und stellt fest, dass Begriffe aus dem Wortfeld sowohl in persönlichen als auch politischen Beziehungen vor allem dann explizite Verwendung finden, wenn Xenophon Verhalten kritisieren möchte und mangelnde Selbstbeherrschung anprangert. Xenophon beschränke sich aber nicht auf eine moralische Kritik, sondern betone, dass überzogene und unüberlegte Gewalt auch niemals politisch opportun sei. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Paolo A. Tuci in seinem Beitrag zu orgē in den Hellenika. Für Xenophon war Zorn zwar eine verständliche Reaktion gegenüber ungerechten Handlungen, die es aber zu kontrollieren galt. Warum aber vor allem Zorn als ein Kennzeichnen von Sparta und spartanischen Kommandanten dargestellt wird, beleuchtet Tuci allerdings kaum.
Nicht ganz in den thematischen Rahmen des Sammelbands passt der Beitrag von P. J. Rhodes, der sich auf die Darstellung von Entscheidungsprozessen innerhalb der Poleis konzentriert und untersucht, wie solche institutionalisierten Verfahren durch Gewalt, aber auch durch andere transgressive Handlungen ausgehebelt wurden. Rhodes betont, dass Xenophon vor allem mit den athenischen Verhältnissen vertraut war, während er für Sparta vor allem persönliche Intrigen und Rivalitäten zeigt und andere Poleis nur im Kontext von Regime- und Bündniswechseln behandelt.
Auf Staseis konzentriert sich auch Frances Pownall und zeigt, dass Xenophon besonders herausragende Gewaltakte detailliert und sehr plastisch schildert, um die zerstörerische Wirkung von Bürgerkriegen zu zeigen. Wie Pownall überzeugend darlegt, wird die Verantwortung für Eskalationen häufig Sparta zugewiesen; Xenophon verweise so auf die Vergeblichkeit der spartanischen Bemühungen zur Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie. Damit verbinden lassen sich auch die Ergebnisse von Edith Fosters Beitrag zu den kleineren spartanischen Niederlagen in den Hellenika, denen Xenophon besondere Aufmerksamkeit widmet und dabei die besonderen moralischen Schwächen der spartanischen Kommandanten aufzeigt.
Anhand von drei Beispielen aus Anabasis und Hellenika analysiert Edward Harris Xenophons Einstellungen zu Gewaltausübung innerhalb der Gemeinschaft und zeigt, dass Xenophon spontane Gewaltausbrüche prinzipiell ablehne und betone, dass Amts- und Entscheidungsträger über ihre Taten Rechenschaft ablegen müssen. Nur in Ausnahmefällen wie dem Tyrannenmord erscheint bei Xenophon Gewalt außerhalb der Institutionen gerechtfertigt, weil eine solche Tat dem Wohle aller dient. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Nathan Crick in seinem Beitrag zur Rhetorik der Gewalt in der Anabasis und demonstriert, wie Xenophon seine eigenen Handlungen durch Rationalisierung rechtfertigt.
Bogdan Burliga widmet sich als einziger der Kyropädie und zeigt, dass das Bild des Kyros weniger idealisiert ist als häufig angenommen wurde. Denn Xenophons Kyros schreckt bei der Errichtung seines Reichs nicht vor Grausamkeiten und brutalen Praktiken zurück, herrschte aber mit Augenmaß. Xenophon entwerfe keine Utopie, sondern stelle die grundsätzliche Frage, inwiefern Imperien gerecht sein können. Xenophon sei eben kein idealistischer Denker, sondern ein pragmatischer Schreiber, der immer die Rückbindung an die harten Realitäten seiner Zeit suche.
Auf eine sehr reale Begebenheit konzentriert sich Aggelos Kapellos in seiner Untersuchung zur fehlenden Reaktion auf die Exekution von athenischen Kriegsgefangenen nach der Schlacht von Aigospotamoi durch die Spartaner. Ausgangspunkt bildet seine Beobachtung, dass Xenophon und andere Quellen keinerlei Indizien dafür bieten, dass diese Massenhinrichtung Reaktionen bei den Griechen provoziert hätte. Nach der Ansicht von Kapellos würde Xenophon zeigen wollen, dass brutale Praktiken im Peloponnesischen Krieg zu einer Banalität verkommen sei.
Andrew Wolpert untersucht die Darstellung der Herrschaft der Dreißig bei Xenophon und anderen Autoren. Wolpert betont die Gemeinsamkeiten der Berichte, die alle drei auf die inhärente Gewaltsamkeit der Herrschaft der Dreißig und autoritären Regimen im Allgemeinen verweisen würden.
Die Beiträge verweisen deutlich darauf, wie zentral die Auseinandersetzung mit Gewalt für Xenophons geistige Haltung gewesen ist. Insbesondere wird die enge Verbindung zwischen Gewalt und Herrschaft an vielen Stellen deutlich gemacht. Die Beiträge zeigen Xenophon als Realisten, der die Auswüchse der spartanischen Hegemonie und die Mechanismen von Gewalt innerhalb der Poleis klar benennt. Gleichzeitig wird Xenophon auch als reflektierender Denker behandelt, der sich der Bedeutung von Gewalt für den Aufbau und Unterhalt von Herrschaftsbeziehungen voll und ganz bewusst ist und darauf aufbauend grundsätzliche Überlegungen über die Eindämmung von Gewalt und die Möglichkeiten von gerechter Herrschaft anstellt. Der facettenreiche Sammelband bietet daher eine hervorragende Grundlage, um noch mehr Seiten an einem der vielseitigsten Autoren der Antike zu erforschen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Michael Rathmann: Diodor und seine "Bibliothek". Weltgeschichte aus der Provinz, Berlin 2016; Dagmar Hofmann: Griechische Weltgeschichte auf Latein. Iustins Epitoma historiarum Pompei Trogi und die Geschichtskonzeption des Pompeius Trogus, Stuttgart 2018; Vasileios Liotsakis: Alexander the Great in Arrian's "Anabasis", Berlin 2019.
[2] Vgl. speziell zu Xenophon: Christopher J. Tuplin / Fiona Hobden (eds.): Xenophon. Ethical Principles and Historical Enquiry, Leiden / Boston 2012; Michael A. Flower (ed.): The Cambridge Companion to Xenophon, Cambridge 2017 sowie vom Herausgeber des Sammelbands selbst: Aggelos Kapellos: Xenophon's Peloponnesian War, Berlin 2019.
[3] Zur Gewalt als Forschungsthema der Altertumswissenschaften vgl. Lennart Gilhaus: Physische Gewalt in der griechisch-römischen Antike - Ein Forschungsbericht, in: H-Soz-Kult, 13.07.2017, www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-3014.
Lennart Gilhaus