Hans-Joachim Hinrichsen: Ludwig van Beethoven. Musik für eine neue Zeit, Stuttgart: J.B. Metzler 2019, 386 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-476-04912-4, EUR 39,99
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Ein vielzitiertes Aperçu aus Theodor W. Adornos Skizzen zum nie vollendeten Beethoven-Buch lautet: "Beethovens Musik ist die Hegelsche Philosophie; sie ist aber zugleich wahrer als diese". [1] Ebenso zugespitzt könnte Hans-Joachim Hinrichsens fulminante Beethoven-Monographie auf folgenden Nenner gebracht werden: Beethovens Musik ist die Kantsche Philosophie; sie ist aber zugleich humorvoller als diese.
Obwohl Hinrichsen Beethovens Zeitgenossenschaft auch an zahlreichen weiteren Bezügen aufweist, wird kein Autor so häufig und genau diskutiert wie Kant. So wie dessen kritische Schriften die "Grundlegung der modernen Philosophie" geleistet hätten [2], leisteten "Beethovens reife Werke die Grundlegung der modernen Musik" und seien "in einer fundamentalen Bedeutung Musik für eine neue Zeit" (9). Diese Sätze, die zunächst wie eine leicht hingeworfene Parallele wirken, schlagen das Thema an, das im Buch mit der Stringenz und Phantasie einer Beethovenschen Durchführungspartie variiert, aufgelöst und rekombiniert und schließlich bestätigt wird: "Kants kritische Moralphilosophie und Schillers darauf reagierende idealistische Ästhetik" seien "in das Fundament von Beethovens Weltanschauung eingegangen", auch wenn "er sich den Mühen einer systematischen Lektüre kaum unterzogen haben wird" (42). Diese These mag einseitig erscheinen - und vor allem liegt bei ihr die Gefahr nahe, dass Beethovens politischer Anspruch ins Moralphilosophische abgebogen wird. Aber die Konsequenz ihrer Durchführung eröffnet dann doch viele anschlussfähige Perspektiven.
Die vier großen, grob chronologisch orientierten Kapitel sind wohl am ehesten als geistige Biographie des Komponisten zu charakterisieren. Dazu gehört aber nicht nur die Aneignung fremden Gedankenguts im Sinne der Ideengeschichte, sondern die geistige Leistung der Musik selbst. Man kann das Buch denn auch nur mit Gewinn lesen, wenn man die zahlreichen und manchmal recht eingehenden musikalischen Analysen nachvollzieht. Dafür wird der Griff zu den Notentexten notwendig, da das Buch ohne jedes Notenbeispiel auskommt und selbst der Formvergleich der drei Leonoren-Ouvertüren auf ein verdeutlichendes Diagramm verzichtet (zusätzlich erschwert wird die Lektüre durch die ganz und gar leserunfreundliche Entscheidung des Verlags, die oft sehr substanziellen und bereichernden Anmerkungen in einen fast fünfzigseitigen Endnoten-Limbo zu verdammen).
Die musikanalytische Auseinandersetzung ist unabdingbar, weil Beethovens Musik eben keine "tönende Poesie" oder "klingende Essayistik" darstellt (21). Begriffliche Auslegungen einer "ästhetischen Idee" sind nach Kant zwar nicht unmöglich, aber allemal nicht erschöpfend. Hinrichsen analysiert die musikalische Form, um darin deutend ideelle Gehalte namhaft zu machen, die Beethoven als Zeitgenossen des deutschen Idealismus ausweisen. So heißt es beispielsweise mit Bezug auf das "in geheimnisvollem Pianissimo [...] in sich vibrierende Nonenakkord-Klangfeld" auf die Worte "Ahnest du den Schöpfer, Welt?" im Finale der Neunten Symphonie: "Was bei Kant nach der zwingenden Widerlegung aller orthodoxen Gottesbeweise der philosophische Ausdruck einer auf Vernunftgründe gestützten 'moraltheologischen' Hoffnung ist, erscheint bei Beethoven in der ästhetischen Evidenz einer überwältigenden Inszenierung des musikalisch Erhabenen" (292).
Solche emphatischen Formulierungen weisen das Buch im Grunde der fast ausgestorbenen Tradition der Geistesgeschichte zu. Freilich betreibt sie der Autor mit höchster philologischer und analytischer Sorgfalt. An Schnellschüssen, bei denen die Figur des Zeitgeists für alle Vermittlung einspringt, ist Hinrichsen nicht gelegen. Ohne die Mühen, das formale Detail nachzuvollziehen, blieben die Deutungen nur Behauptung. "Was bei der Musik gedacht wird, wird sich nie in Begriffe übersetzen lassen; dass aber etwas bei ihr zu denken sei, gilt als unverlierbare Einsicht in den mündigen Umgang mit ihr" (67).
Um nur einige Abschnitte herauszugreifen: Im ersten Kapitel "Der junge Beethoven" wird die hohe Diskurskultur des "geselligen Betragen[s]" in den Wiener Adels-Salons um 1800 rekonstruiert. Der damit gleichsam geadelte Begriff der "Salonmusik" wird dann anhand von Beethovens Andante favori WoO 57 exemplifiziert. Ausgehend von einem einzigen Ton, dem Cis im zweiten Takt, deutet Hinrichsen dieses Stück kunstvoll als eines, dem die "ideale Hörerin", die solche Details in ihrer formalen Bedeutung wahrnimmt, "geradezu einkomponiert" sei (53). Ähnlich subtile Einzelbeobachtungen dienen oft zum Ausgangspunkt (etwa beim späten cis-Moll-Quartett op. 131).
Ein großer Abschnitt des zweiten Kapitels ist dem berühmten Symphonien-Paar Nr. 5 und 6 gewidmet. Hinrichsen argumentiert überzeugend, dass diese Werke sich gegenseitig erschließen und warum es Sinn macht, die Reihenfolge umzukehren und die "Pastorale" vor der "Schicksals"-Symphonie zu bedenken - dass die 6. auf den Begriff der Natur zielt und die 5. auf den der Freiheit, ist gewiss keine grundstürzend neue Deutung, mit Kant kann jedoch in der vernunftbestimmten Moralität der gemeinsame Fokus dieser beiden vermeintlich konträren Pole erkannt werden.
Freilich mutet die Konzentration auf Kant zuweilen beinah reduktionistisch an. Dass ausgerechnet E.T.A. Hoffmann an seinen Beethoven-Kritiken als Kantianer kenntlich werde, diese These des dritten Kapitels wird sicher auf Widerspruch stoßen. Andererseits: In Kants bedeutender - und von Beethoven eigenhändig exzerpierter - Frühschrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) wird der Satz "Gebt mir nur Materie, und ich will euch eine Welt daraus bauen" der Gottheit in den Mund gelegt. Und es liegt nahe, diesen Satz auf Beethovens Kompositionsweise zu übertragen, bei Hinrichsen etwa bildet er das ideale Motto der Diabelli-Variationen, die aus einem recht unspektakulären Thema in der Tat eine musikalische Welt bauen. Hinrichsen geht aber noch weiter und prägt für Werke wie die Achte Symphonie den Begriff der "Transzendentalmusik", also Musik, die über die Bedingungen ihrer Möglichkeit reflektiert. Hier ließe sich freilich einwenden, dass solche Transzendentalmusik dann auch schon bei Haydn und vielleicht Carl Philipp Emanuel Bach zu konstatieren wäre.
Das vierte Kapitel widmet sich dem auch heute noch enigmatischen, von geradezu grotesken stilistischen Kontrasten geprägten Spätwerk. Dieses wird als ein klingendes Gegenstück zu Jean Pauls Humor-Begriff gedeutet, in dem der Humor "als das umgekehrte Erhabene" das Trivialste dem Großartigsten vergleichbar macht. In den Analysen speziell zu den späten Streichquartetten kann man sich freilich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Interesse am Ganzen, an der Demonstration der inneren Einheit die Bedeutung des Kontrasts manchmal zu verschlucken droht. Der von Hinrichsen gerade in seinen Thesen zum "Spätstil Beethovens" mehrfach gescholtene Adorno hätte zumindest in der Dialektik seiner Methode hier ein Vorbild sein können.
Auch wenn man dem Autor nicht in jeder Deutung folgen möchte, legt man das Buch voller Bewunderung aus der Hand. Beethoven nicht nur als Produkt der nationalistischen Rezeption, als Popanz der Genieästhetik oder als geschickten karrieretechnischen Netzwerker darzustellen [3], sondern seine Musik ernst und genau zu nehmen und sie als (man gestatte den Hegelianismus) sinnliches Scheinen der Idee darzustellen, das ist ein so unzeitgemäßes Vorgehen, dass es schon wieder höchst aktuell anmutet.
Anmerkungen:
[1] Theodor W. Adorno: Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1993 (Nachgelassene Schriften; I.1), 36.
[2] Hinrichsen verweist hier auf Otfried Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2003, 42004.
[3] So etwa in zwei einflussreichen neueren Studien: Tia DeNora: Beethoven and the Construction of Genius: Musical Politics in Vienna, 1792-1803, Berkeley [u.a.] 1995, und Jan Caeyers: Beethoven. Der einsame Revolutionär. Eine Biographie, München 2012.
Wolfgang Fuhrmann