Rezension über:

Julia Ackermann / Melanie Unseld (Hgg.): BEETHOVEN.AN.DENKEN. Das Theater an der Wien als Erinnerungsort, Wien: Böhlau 2020, 214 S., 37 Farbabb., ISBN 978-3-205-20960-7, EUR 23,00
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Rezension von:
Hans-Joachim Hinrichsen
Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Fabian Kolb
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Joachim Hinrichsen: Rezension von: Julia Ackermann / Melanie Unseld (Hgg.): BEETHOVEN.AN.DENKEN. Das Theater an der Wien als Erinnerungsort, Wien: Böhlau 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/03/34418.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Ludwig van Beethoven (1770-1827)" in Ausgabe 21 (2021), Nr. 3

Julia Ackermann / Melanie Unseld (Hgg.): BEETHOVEN.AN.DENKEN

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Im Februar 2020 eröffnete das Theater an der Wien als Beitrag zum Jubiläumsjahr eine Ausstellung "Beethoven an der Wien denken", in enger Kooperation mit dem von Melanie Unseld geleiteten Forschungsprojekt "Erinnerungsort Beethoven: Theater an der Wien", das an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst angesiedelt war. Die Brücke zwischen diesem Projekt und der Ausstellung bildet der vorliegende Band, und so erklärt sich auch sein auf schöne Weise mit Worten spielender Titel. In einer gewichtigen "Ouvertüre" der beiden Herausgeberinnen wird die Intention des Buchs umrissen: Das Theater an der Wien ist ein bisher sträflich vernachlässigter Beethoven-"Erinnerungsort" und soll als ein solcher wieder ins Bewusstsein gerückt werden. Nicht nur sind hier 1805 und 1806 die ersten beiden Fassungen der Oper "Leonore/Fidelio" über die Bühne gegangen, sondern der Komponist ist auch über weitere Anlässe (der berühmteste ist die große "Akademie" vom 22. Dezember 1808) mit dem Theater verbunden und hat - last but not least - während der Arbeit an der Oper eine wichtige Phase seines Lebens als Bewohner dieses Gebäudekomplexes verbracht. Daraus ergibt sich die bestechende Idee, das Theater als "Soziotop" und zentralen Knoten eines "Netzwerks" aufzufassen, von dem aus neues Licht auf Beethovens Leben und Schaffen fällt. Somit werden an diesem Beispiel neuere kulturwissenschaftliche Ansätze ("lieux de mémoire", Netzwerkforschung) nun auch für die Beethovenforschung fruchtbar gemacht. Gleichzeitig werden kritische Fragen an die Beethoven-Rezeption gestellt, die diesen wichtigen Erinnerungsort von Anfang an marginalisiert hat. Damit ist der Ton des Unternehmens angegeben: eine durchgehend rezeptionskritische Perspektive, die das Phänomen "Fidelio" weniger als Objekt einer analytischen Philologie, sondern vielmehr als Konstrukt einer an Um- und Abwegen reichen Erinnerungskultur verstehen will. Das zeigen die beiden Herausgeberinnen modellhaft an einer vergleichenden Analyse der ausführlich zitierten Zeitzeugenberichte über die problematische Umarbeitung der Erst- zur Zweitfassung der Oper (33-46).

Das reich illustrierte Buch versammelt nach dieser umfangreichen Einleitung und einer detaillierten Chronik der Ereignisse acht Aufsätze, die den gewählten Fokus der Untersuchung an diversen Bereichen durchspielen. Die Beiträge stammen mit wenigen Ausnahmen von Studierenden in der Promotionsphase, lassen also in erfreulicher Vielfalt den Nachwuchs zu Wort kommen. Akika Yamada untersucht die Lebens- und Arbeitsbedingungen Beethovens im Kontext des Theaterbetriebs und zeigt in komparatistischer Perspektive sehr schön, wie das heute geläufige Bild des unruhig die Wohnungen und die Freundeskreise wechselnden Genies das Resultat einer tendenziös selektiven Wahrnehmung ist. Die um die Produktion der Oper herum verflochtenen Netzwerke, die Aufschluss geben über "die sozialen, funktionalen, ökonomischen, technischen und medialen Zusammenhänge, die kulturellen Gemeinschaften innewohnen und kulturelles Handeln ausmachen" (65), zeichnet anschließend Roman Synakewicz nach. Erhellend ist die Geschichte der wechselvollen Beethoven-Gedenktafeln am Theater (Constanze Marie Köhn); manchem Kenner der historischen Lokalität dürfte übrigens hier erstmals klar werden, dass das heute in einer Seitenstraße gelegene Papageno-Tor seinerzeit die dem Glacis zugewandte Hauptfront des Theaters bezeichnete. Einen lebendigen Einblick in die Atmosphäre des französisch besetzten Wien zur Zeit der "Fidelio"-Premiere bietet die Auswertung der Tagebücher von Henry Reeve und Joseph Carl Rosenbaum (Clemens Kreutzfeldt).

Es liegt nahe, an Beethovens Oper die "Weiblichkeitsentwürfe" der Epoche kritisch zu thematisieren. Wenn Florestan mit einem Schiller-Zitat, das dann auch in der 9. Sinfonie begegnen wird, sein "holdes Weib" besingt, das von ihm "errungen" sei - "wie ein Besitz" (120), so setzt Anke Charton in ihrem einschlägigen Beitrag hinzu -, dann wählt die Verfasserin allerdings aus den diversen Interpretationsmöglichkeiten gerade die missgünstigste (bzw. misogynste) aus. Historisch gerechter wäre es, wenn man das Libretto samt der französischen Vorlage von 1798 vor dem Hintergrund des im postrevolutionären Frankreich lebhaft diskutierten "conjugalisme" begreifen würde, der angesichts der überfälligen Reform des Ehescheidungsgesetzes die eheliche Verbindung auf die moderne Basis der Liebe (statt standespolitischer Pragmatik) stellte; darauf hat jüngst der französische Romanist Olivier Bara hingewiesen. "L'amour conjugale" lautet nicht zufällig der Untertitel fast aller vorliegenden Bearbeitungen des Stoffs. Aufschlussreich ist die danach vorgenommene Kontextualisierung von Beethovens Oper durch die übrigen Werke, die der Spielplan zwischen der ersten und der zweiten Fassung aufweist. Julia Ackermann listet sie (leider in alphabetischer, nicht in chronologischer Reihung) sorgfältig auf (140-145). Man erfährt auch etwas über die Logenpreise, wobei hier ein kleiner Rechenfehler zu korrigieren ist: Eine Starsängerin wie Anna Milder hätte dafür nicht einen Monats-, sondern nur einen Wochenlohn aufbringen müssen (136), was immer noch nicht wenig ist. Ein ertragreicher Durchgang durch die zeitgenössischen Rezensionen zu allen drei Fassungen des "Fidelio" schließt sich an (Alexander Fischerauer). Es würde, gerade in einem Buch, das sich sonst so sehr um Kontextualisierung bemüht, sich lohnen, die im Ton allmählich wechselnden Kritiken wenigstens stichprobenartig mit den Rezensionen zu den Instrumentalwerken abzugleichen, denn dann würde sich der Befund einer eindimensionalen, vor allem politisch motivierten (163) Heroenkonstruktion wohl etwas relativieren. Hannah Lindmaier beschreibt abschließend den "Ortswechsel" (165) der Oper von der Bühne in den Salon anhand der zahlreichen Arrangements und Potpourris, die als ernstzunehmendes eigenes Genre den immer noch zu wenig systematisch untersuchten Katalysator der Popularisierung anspruchsvoller Musik darstellen. Die Autorin deutet das Phänomen als Indikator der "Vernetzung" von Komponisten, Bearbeitern, Verlagen und Publikum (185) - ein Stichwort, mit dem der Kreis zum Ausgangspunkt des Buchs schön geschlossen wird.

Eine umfangreiche Literaturliste zu den Themen der einzelnen Beiträge rundet den Band ab. Insgesamt liegt hier ein klug durchgeführtes Projekt vor, das jedem an Beethovens Biografie, an der Genese des "Fidelio" und an den Abgründen der Wirkungsgeschichte Interessierten dringend zu empfehlen ist. Ein wenig störend ist lediglich die über den ganzen Band hinweg geradezu inflationäre, bisweilen auch pauschale und sogar falsche Verwendung des Modeworts "Narrativ", für das sich an Ort und Stelle oft allerhand präzisere Synonyme hätten finden lassen. Das hätte auch der mit diesem Buch faktisch hervorragend geleisteten Differenzierung der Rezeptionsperspektiven gut entsprochen.

Hans-Joachim Hinrichsen