Rezension über:

Agnieszka Lulińska / Julia Ronge (Hgg.): Beethoven. Welt - Bürger - Musik. Katalog zur Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn, 2019/2020, Köln: Wienand 2019, 264 S., ISBN 978-3-86832-555-3, EUR 39,80
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Rezension von:
Elisabeth Reisinger
Wien
Redaktionelle Betreuung:
Fabian Kolb
Empfohlene Zitierweise:
Elisabeth Reisinger: Rezension von: Agnieszka Lulińska / Julia Ronge (Hgg.): Beethoven. Welt - Bürger - Musik. Katalog zur Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn, 2019/2020, Köln: Wienand 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/03/34630.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Ludwig van Beethoven (1770-1827)" in Ausgabe 21 (2021), Nr. 3

Agnieszka Lulińska / Julia Ronge (Hgg.): Beethoven

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Begleitend zu der umfassenden Schau in der Bundeskunsthalle in Bonn in den ersten Monaten 2020 [1] präsentieren die Kuratorinnen Agnieska Lulińska und Julia Ronge mit dem gleichnamigen Band ein facettenreiches Zusammenspiel aus verschiedenen Textsorten, hochauflösenden Farbabbildungen und kreativen Gestaltungselementen. Mit der offen gehaltenen, assoziativen Begriffskombination "Welt / Bürger / Musik" laden sie zudem ein, sich Beethoven in seinen kulturellen, sozialen und politischen Lebenswelten auf verschiedenen Ebenen zu nähern. Korrelierend mit der Ausstellung ist der Band in fünf Themenschwerpunkte gegliedert, die zugleich die biographische Beethoven-Erzählung chronologisch ordnen:

I. Bonn - Beruf Musiker 1770-1792
II. Wien - Neue Horizonte 1792-1801
III. Wege zum Erfolg 1802-1812
IV. Der Ruhm und sein Preis 1813-1818
V. Beethoven grenzenlos 1819-1827

Jeder Abschnitt wird von einer übersichtlichen und relativ detaillierten Chronologie der Herausgeberin Julia Ronge eingeleitet. So ist es möglich, zunächst den behandelten Zeitraum in Beethovens Leben sowie im allgemeinen historischen Kontext einzuordnen. Dies stattet die Leser*innen mit ausreichend Hintergrundwissen für die nachfolgenden Beiträge aus, die sich nun eben nicht mehr in chronologisch-biographischen Datensammlungen zu verlieren brauchen. Unter den oben genannten Überschriften werden zwei Textsorten gruppiert: je ein "Leitartikel" als Einstieg (I. Norbert Schloßmacher / II. Otto Biba / III. Julia Ronge / IV. William Kinderman / V. Ulrich Konrad), sowie je drei bis fünf weiterführende Aufsätze, die unterschiedliche Aspekte und Perspektiven aufgreifen (I. Ingrid Bodsch, John D. Wilson, Barbara Vinken / II. Barry Cooper, Agnieska Lulińska, Alan Gosman / III. Steven M. Whiting, Julia Cloot, William Meredith / IV. Adam Zamoyski, Verena Großkreutz, Karl Thraugott Goldbach / V. Jan Caeyers, Silke Bettermann, Norbert Oellers, Daniel Schäfer, Ilona Sármány-Parsons).

Allgemein bietet der Band eine ausgewogene Mischung aus eher traditionellen Überblicksdarstellungen (in denen allerdings hie und da mittlerweile als überholt geltende Begriffe durchblitzen, wie jener des "aufgeklärten Absolutismus" (35)) und erfrischenden, ungewohnten Perspektiven. Die Auswahl an Themen ist erfreulich vielfältig und reicht über die Grenzen der Musikwissenschaft hinaus, da auch Autor*innen aus den Bereichen der Geschichtswissenschaften, Kunstgeschichte oder der praktischen Musikausübung aufgenommen wurden. Dadurch erzählt jede Sektion nicht lediglich eine biographische Episode, sondern zeichnet ein vielschichtiges Bild der Lebensrealität des Komponisten. Zwar beginnen in Abschnitt I sämtliche Beiträge (bis auf den letzten) etwas redundant mit beinahe wortidenten Hinweisen auf Beethovens Geburt 1770 in Bonn, allgemein wird hier aber ein guter und facettenreicher Einstieg in Beethovens sonst oft unterrepräsentierte Bonner Jahre geboten. Vor allem der Text von John D. Wilson präsentiert einige neue Forschungserkenntnisse zu den initialen musikalischen Bezugssystemen des Komponisten, der hier eben nicht als plötzlich aus dem Nichts erscheinendes Genie verstanden wird. Einen besonders lebhaften Einblick in Beethovens Alltag und seine Werkstatt vermittelt Teil III mit Darstellungen von Beethovens Tagesablauf, seiner Wirtschafts- und Arbeitssituation, aber auch seiner Krankengeschichte. Sektionen IV und V beziehen schließlich neben weiteren Rekonstruktionen der Lebenswelten Beethovens aus den Quellen auch Fremdwahrnehmungen und externe Blicke auf den Komponisten ein.

Besonders gelungen, und ohne redundant zu sein, sind manche inhaltliche Verzahnungen der einzelnen Abschnitte: So ergänzen sich etwa Barbara Vinkens in Teil I formulierte Gedanken über Beethovens Erscheinungsbild, die sie ausgehend von Ottmar Hörls Skulptureninstallation für Bonn 2020 entwickelt, und Silke Bettermanns konzise kunsthistorische Einordnung des wohl berühmtesten Beethoven-Porträts von Joseph Karl Stieler in Teil V. Ähnlich komplementär wirken auch die Texte von William Meredith (Teil III) und Daniel Schäfer (Teil V), die ausgehend von Beethovens Krankheitsverläufen bis hin zu seinem Tod den Komponisten menschlich besonders greifbar machen. Es sind gerade solche Beiträge, die dem im Vorwort (ohne Seitenzahl) formulierten Anspruch, "hinter dem weltweit verehrten, aber seltsam entrückten Originalgenie den Menschen Beethoven mit all seinen Facetten sichtbar werden zu lassen", durchaus gerecht werden.

Diese "Entrücktheit", ein wenig Mythos und Geheimnis, die das allgemein interessierte (Ausstellungs-)Publikum, an das sich ja ein solcher Band vornehmlich richtet, vielleicht doch auch erwarten und erhoffen würde, sind hier aber nicht gänzlich verbannt. Auf kleinformatigen, farbigen Einlageblättern teilen Musiker*innen (darunter etwa Gustavo Dudamel und Tabea Zimmermann) ihre Gedanken über Beethoven und ihre Beziehung zu dessen Musik (und heben ihn dabei meist zurück auf sein messianisches Podest). An dieser Stelle muss ich jedoch auf eine Schieflage in der Geschlechterrepräsentation hinweisen: Unter den zitierten Künstler*innen befinden sich 11 Männer, lediglich 3 Frauen, sowie zwei Streichquartette mit je 3 männlichen und 1 weiblichen Mitglied.

Auch die Liste der wissenschaftlichen Autor*innen wird letztlich von Männern dominiert: unter den 22 Aufsätzen sind fast doppelt so viele männliche (14) wie weibliche (8) Namen zu finden, in den fünf Leitartikeln kommt mit Ronge überhaupt nur eine Frau zu Wort. [2] Zum 250. Geburtstag Beethovens und im 21. Jahrhundert ist das bedauerlich und repräsentiert keineswegs die herausragenden Leistungen von Forscherinnen in diesem Themenbereich. Hier wäre ein angemesseneres Geschlechterverhältnis wünschenswert gewesen, gerade in einer so außenwirksamen Publikation.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass hier ein umfangreicher und vielseitiger "Ausstellungskatalog+" vorliegt, in hochwertiger Ausführung und mit einigen kreativen Gestaltungskniffen. Die Auswahl der Autor*innen, sowohl lokale (Bonner) als auch internationale Expert*innen, verspricht an sich schon wissenschaftliche Qualität, die in den Beiträgen unbestritten erfüllt wird. Alles in allem: auch aufgrund der zahlreichen Abbildungen ein schönes Souvenir aus dem Jubiläumsjahr.


Anmerkungen:

[1] https://www.bundeskunsthalle.de/beethoven.html (28.12.2020). Dort wird nun auch ein virtueller Ausstellungsrundgang angeboten.

[2] Ich kenne natürlich nicht die tatsächlichen Geschlechter-Identitäten aller beitragenden Personen und ich beabsichtige nicht, jemanden auszugrenzen oder jemandem ein Label aufzuzwingen, dass dem Individuum nicht entspricht. Meine Analyse basiert auf den im Band verwendeten Namen und Pronomen - diese werden letztlich auch hinsichtlich der Repräsentation der Geschlechter zunächst wahrgenommen. Ich möchte hier außerdem darauf hinweisen, dass in dem Band generell auf geschlechtergerechte Sprache verzichtet wird; so ist etwa schon in den Grußworten von Charles Michel (Präsident des Europäischen Rates) lediglich von "Musikern" und "Hörern" die Rede.

Elisabeth Reisinger