Lisa Ortner-Kreil / Hubertus Butin / Cathérine Hug (Hgg.): Gerhard Richter. Landschaft, Ostfildern: Hatje Cantz 2020, 217 S., ISBN 978-3-7757-4712-7, EUR 44,00
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Natur, Umweltschutz und Landschaft sind Themen, für die sich immer größere Massen begeistern. Dass sie in Verbindung mit großen Namen auch viele Menschen ins Museum locken können, zeigt eine vom Kunstforum Wien und Kunsthaus Zürich organisierte Ausstellung über Gerhard Richters Landschaften. Die bemerkenswerte Schau ist seit Oktober 2020 in Wien zu sehen und versammelt beinahe 150 Arbeiten des Künstlers, darunter auch zahlreiche Hauptwerke wie Eis (1981) oder Seestück (Welle) (1969). Begleitet wird sie von einem 220-seitigen Katalog, der neben den Reproduktionen der Ausstellungsstücke fünf kürzere Essays enthält.
Die von Hubertus Butin verfasste Einleitung des Bandes gibt einen Überblick über die Ausstellung und das Thema. Der Autor betont, dass die Beschäftigung Richters mit dieser "traditionsbeladenen" Gattung im Laufe der Zeit zu sehr vielfältigen Ergebnissen führte (22). Laut Butin sehnt sich der Mensch des 21. Jahrhunderts mehr denn je nach der Natur, da er sich weit von ihr entfernt hat (13). Dennoch könne die Landschaftsmalerei nicht mehr in einer idealisierenden Form wie in früheren Jahrhunderten fortgesetzt werden. Gerhard Richter zeige hier interessante neue Wege auf. Ein Teil seiner Landschaftsgemälde wird nämlich häufig als "stimmungsvoll" empfunden, aber dennoch geht es bei diesen Arbeiten nicht um die "Allgegenwart Gottes in der Natur" (13, 18).
Butin teilt die Landschaften Richters in mehrere Gruppen ein. Diese Ordnung spiegelt sich auch im Hängungskonzept der Ausstellung. Die erste Gruppe bezeichnet er als "Landschaften aus zweiter Hand", da sie nach fotografischen Vorlagen entstanden. Richter verwendete dabei sowohl selbst erstellte als auch gefundene Fotografien. Bei vielen dieser Gemälde, darunter Waldhaus (2004) oder Wasserfall (1997), ist dies deutlich zu erkennen, denn der Künstler wählte ganz bewusst schnappschussartige und amateurhafte Aufnahmen. In die zweite Gruppe wurden die wohl eindrucksvollsten Gemälde der Ausstellung eingeordnet, darunter eine Serie von Teyde-Landschaften (1971), Eis (1981) und Vesuv (1976). Der Kurator nennt diese Werke "Romantisierende Bilder als Kuckuckseier", weil viele von ihnen von Richters Auseinandersetzung mit Landschaftsmalern wie Caspar David Friedrich zeugen. Die Assoziation mit der Romantik wird jedoch auf den zweiten Blick relativiert, so etwa bei Ruhrtalbrücke (1969), das eigentlich eine Autobahnbrücke darstellt. Die größte Gruppe ist diejenige der "abstrakten" Landschaften. Allerdings werden hier sowohl Gemälde und Zeichnungen mit mehr oder weniger deutlichen Abstraktionstendenzen als auch vollkommen ungegenständliche Werke gezeigt. Auch in dieser Gruppe kann der Besucher viele bekannte Arbeiten bewundern, darunter etwa die Serie der Stadtbilder (1968-1970) oder Sankt Gallen (1989). Laut Butin will der Künstler hier ausloten, wie weit man bei Landschaftsmotiven die Verselbstständigung der Form treiben kann, ohne in einer beliebigen Gegenstandlosigkeit zu landen (18). Zu den bemerkenswertesten Exponaten gehören auch die Arbeiten der Gruppe "Landschaften als fiktionale Konstrukte", darunter mehrere der Seestücke. Die Grundlage für diese Werke sind Collagen aus Teilen von Fotografien. So wurde etwa Seestück (bewölkt) (1969) aus den Aufnahmen einer Meeresoberfläche und eines Wolkenhimmels zusammengesetzt und anschließend mit Ölfarben auf die Leinwand übertragen. Die letzte Gruppe bilden schließlich die sogenannten übermalten Landschaften, bei denen Richter Ölfarbe auf Landschaftsfotografien anbrachte. Der Autor sieht bei diesen eine paradoxe Verbindung und Ambivalenz von Realismus und Ungegenständlichkeit (22).
Es ist sinnvoll, Richters Landschaftsbilder nach solchen Kategorien einzuteilen, weil dadurch die Gestaltungsprinzipien, die Intentionen und die Arbeitsweise des Künstlers besser verständlich werden, jedoch können viele der ausgestellten Werke mehreren Gruppen zugeordnet werden. So spielt der kreative Umgang mit fotografischen Vorlagen bei den meisten Landschaften des deutschen Künstlers eine bedeutende Rolle. Zudem kommt auch in einigen der Seestücke Richters Auseinandersetzung mit romantischer Landschaftsmalerei zum Ausdruck.
Lisa Ortner-Kreil und Cathérine Hug wagen sich an eine Deutung von Gerhard Richters Landschaftsmalerei. Einig sind sich die Autorinnen darin, dass der Begriff der Unbestimmtheit die Landschaften dieses Künstlers am besten charakterisiert (30, 34). Im Fokus ihrer Überlegungen stehen vor allem die "realistischen" Landschaftsbilder Richters, die zwischen den späten 60er und frühen 80er Jahren entstanden. Ortner-Kreil versucht eine Interpretation, die enger an konkreten Arbeiten wie den Seestücken, der Serie der Teyde-Landschaften oder Davos angelehnt ist. Hug hingegen geht es eher darum, die Beziehung zwischen dem Werk des Künstlers und seinen Selbstäußerungen zu ergründen und seine Arbeiten in einem größeren kulturellen Kontext zu verankern. Jedoch verweist auch Ortner-Kreil auf ein wichtiges Zitat Richters aus dem Jahr 1966: "Ich fliehe jede Festlegung, ich weiß nicht, was ich will, ich bin inkonsequent, gleichgültig; ich mag das Unbestimmte und Uferlose und die fortwährende Unsicherheit". [1] Ferner betont die Kunsthistorikerin, dass fotografische Vorlagen auch bei diesen drei Werkgruppen eine wichtige Rolle spielten und vergleicht die Teyde-Landschaften und Davos mit Fotoserien aus Richters Atlas, einer umfangreichen Sammlung von eigenen und vorgefundenen Fotografien (27-29). Insbesondere bei den Teyde-Landschaften kämen zudem auch deutliche Abstraktionstendenzen zum Tragen. In der Unschärfe und der Gleichzeitigkeit von Abstraktion und Figuration komme zum Ausdruck, dass der Künstler der "Realität", die unsere Sinne vermitteln, zutiefst misstraut. Hier setzt auch Cathérine Hug an, indem sie auf eine Äußerung Richters von 1981 verweist, der zufolge die abstrakten Bilder des Künstlers die Realität zeigen, während in den "realistischen" Arbeiten seine Sehnsüchte reflektiert werden. Richter zufolge seien seine Landschaften daher bis zu einem gewissen Grad auch "vom Traum nach klassischer Ordnung und heiler Welt" motiviert. [2] Das Uneindeutige in Richters Kunst will die Autorin jedoch auch damit erklären, dass sich die Kunst der Nachkriegszeit dem Propagandaverdacht entziehen wollte (39). Außerdem betont sie, dass der Künstler Unklarheit, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit als etwas Positives sieht. Unbestimmt zu sein bedeute, mehr Möglichkeiten zu haben (34).
Der norwegische Künstler und Schriftsteller Matias Faldbakken vergleicht Richters Landschaftsbilder zunächst mit der Kunst der beiden bekanntesten norwegischen Landschaftsmaler, Peder Balke und Lars Hertervig, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkten (179). Dabei sieht er einerseits Parallelen zwischen Balkes sogenannter "fordriver"-Technik und Richters abstrakten Gemälden (182), andererseits meint er, dass es sowohl Richter als auch Hertervig nicht um die Realität, sondern um den "Schein der Realität" gehe (187). Dem Autor zufolge male Richter jedoch "enttäuschte" und "erschöpfte" Landschaften (187). Diese seien ein "Darlehen, bei dem sich Zinsen ansammeln" und die "kaltblütige Ausbeutung unserer natürlichen Umgebung" komme in ihnen zum Ausdruck (189).
Hochinteressant ist auch T. J. Demos Beitrag, obwohl es sich hierbei eigentlich um einen philosophischen Essay handelt, der das Thema der Ausstellung nur am Rande berührt. Im Fokus des Textes, welcher den zunächst etwas rätselhaften Titel "Das Skopische und das Geschaffene. Landschaften im Anthropozän" trägt, steht der Gedanke, dass Landschaften im 20. und 21. Jahrhundert in einem hohen Maß vom Menschen manipuliert sind. Sie würden nach den Vorstellungen von wenigen großen Unternehmen gestaltet, um noch mehr Reichtum aufzuhäufen. Der Autor kritisiert, dass wir in einer artifiziellen und auf maximale Effizienz ausgerichteten Welt leben (191), in der bald womöglich auch das Wettergeschehen künstlich "gesteuert" wird (195). In diesem Zusammenhang erwähnt er auch die Ideen des Amazon-Gründers Jeff Bezos, der die Errichtung von Städten im Weltall plant (194). Demos fordert, dass wir Menschen nicht mehr uns selbst ins Zentrum des Lebenskreislaufs stellen und einen "Gemeinsinn" entwickeln, welcher der ganzen Welt nützt (199).
Grundsätzlich haben die Herausgeber also eine nicht zu umfangreiche, aber umso interessantere und lesenswertere Publikation zusammengestellt. Es ist durchaus berechtigt, im Rahmen einer Ausstellung über Landschaftsmalerei auf zeitgenössische Umweltschutzbewegungen einzugehen. Allerdings kann man die Landschaftsbilder Richters meines Erachtens eher nicht mit diesen in Verbindung bringen. So wird auch in keinem der Essays das Verhältnis des Künstlers zu Natur und Umweltschutz angesprochen. Tatsächlich scheint es von Gerhard Richter keine diesbezüglichen Äußerungen zu geben. Wichtig wäre ferner gewesen, die Kompositionen der ausgestellten Arbeiten eingehender zu analysieren. In vielen Werken kommt nämlich das Streben des Künstlers nach Harmonie und Gleichgewicht zum Ausdruck. In diesem Sinne ist Richter also durchaus ein "traditioneller" Landschaftsmaler, denn die Suche nach der perfekten Komposition war in der Landschaftsmalerei immer ein Hauptthema.
An den Tagen, an denen das Kunstforum Wien geöffnet war, war die Schau (erwartungsgemäß) gut besucht. Insgesamt konnte man sie aufgrund der Covid-19-Krise bisher jedoch leider nur im Oktober und an einigen Tagen im November und Dezember sehen. Es ist zu hoffen, dass im Februar und März noch ein paar Tage dazukommen und vor allem, dass in Zürich viel mehr Menschen die Möglichkeit haben werden, diese großartige Ausstellung zu erleben.
Anmerkungen:
[1] Gerhard Richter: Notiz 1966, in: Dietmar Elger / Hans Ulrich Obst (Hgg.): Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Köln 2008, 53.
[2] Gerhard Richter: Notizen 1981, ebd., 65-66.
Anna Simon