Tyson Retz: Empathy and History. Historical Understanding in Re-enactment, Hermeneutics and Education (= Making Sense of History - Studies in Historical Cultures; Vol. 35), New York / Oxford: Berghahn Books 2018, 241 S., ISBN 978-1-78533-919-6, GBP 89,00
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In seinem wirklich inspirierenden Buch versucht Tyson Retz, Professor an der Fakultät für Kulturwissenschaften und Sprachen der Universität Stavanger, den in der historischen Bildung recht populären Begriff 'Empathie' genauer zu bestimmen. Im ersten Teil des Buches widmet sich Retz dem geschichtsdidaktischen Diskurs in Großbritannien von 1950 bis 1970. Damals sei 'Empathie' dort zu einem Schlüsselbegriff des Geschichtsunterrichts geworden. Für die hiesigen Leser*innen sind die entsprechenden Netzwerke in Universität, Schule und Politik sowie ihre Entscheidungsfindungsprozesse von besonderem Interesse gerade im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland. Dieser weitere Kontext fehlt bei Retz. In Großbritannien habe sich die Implementierung des Begriffs 'Empathie' im Curriculum des Fachs Geschichte an der Geschichtsphilosophie und nicht an der Geschichtswissenschaft orientiert. Von daher konzentrierte sich die Geschichtsdidaktik eher auf historisches Denken und die fachspezifischen Strukturen historischen Wissens als auf Daten und Fakten. Historisches Lernen habe die wissenschaftliche Analyse der Quellen mit dem Anspruch verbunden, die Perspektive des historischen Autors und der historischen Akteur*innen zu übernehmen. Dieses Nebeneinander historisch-kritischer Methode auf der einen und 'Empathie' auf der anderen Seite habe sich als durchaus spannungsreich herausgestellt, weil es emotionale Intuition und rationale Textarbeit zu verbinden suchte. Die Kontroverse innerhalb der britischen Geschichtsdidaktik habe dazu geführt, dass 'Empathie' entweder als Schlüsselkonzept beibehalten, aber versachlicht wurde, indem nicht verlangt wurde, sich in Personen hineinzuversetzen, sondern in den Kontext der Quellen. Oder man habe den Begriff nicht mehr verwendet, aber vorausgesetzt, man könne mit den historischen Autor*innen oder Akteur*innen mitfühlen. Diese Heterogenität prägt auch die Liste der Schlüsselkonzepte insgesamt, zu denen Empathie weiterhin gehört und aus denen Peter Seixas schließlich seine "big six second order concepts" abgeleitet habe: "significance", "epistemology and evidence", "continuity and change", "progress and decline", "the confrontation with difference: empathy and moral judgement" sowie "historical agency" (195-196). Wenn der Kommentar erlaubt sei: Eigentlich braucht es nur zwei Konzepte, narrative und hermeneutische Kompetenz. Zurück zu Großbritannien und zu Retz: Geschichtsdidaktik habe sich deshalb so intensiv mit historischem Wissen und historischer Bildung auseinandergesetzt, um die Existenzberechtigung des Geschichtsunterrichts gegenüber anderen Schulfächern zu begründen. Die Geschichtswissenschaft habe sich in wesentlich geringerem Umfang in Frage gestellt gesehen. Der Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland drängt sich hier förmlich auf: Hier koalierten Geschichtsphilosophie (Rüsen), Geschichtsdidaktik (Jeismann) und Geschichtswissenschaft (Vierhaus) in Mannheim 1976 kurz, aber sehr erfolgreich, um das neue Fach Gesellschaftslehre und die akademische Soziologie in ihre Schranken zu weisen.
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit der Geschichtsphilosophie Collingwoods, auf die sich die britische Geschichtsdidaktik in besonderem Maße bezog. Retz reiht Collingwood in ein weites Feld von Vordenkern - Ranke, Hegel, Croce, Vico, Droysen, Rickert und andere - ein. Dieser habe sich vom romantischen Historismus des 19. Jahrhunderts distanziert, sei also von denjenigen Geschichtsdidaktiker*innen missverstanden worden, die sein Konzept des 're-enactment' mit emotionaler Empathie gleichsetzten. Collingwood selbst habe nie von Empathie geredet. Und auch moderne 're-enactor' können sich bei ihrem Geschichtstheater nicht auf ihn berufen. Collingwood habe unter 're-enactment' verstanden, die Gedanken nachzuvollziehen, die den historischen Autor beim Schreiben bewegt haben, sowie die Probleme, denen er sich in seinem Text gestellt habe. Diese Probleme beziehungsweise Fragen unterschieden sich von denen der Historiker*innen. Und an dieser Stelle benennt Retz klarsichtig das Dilemma moderner Hermeneutik. Wer Quellen analysiert, um die Vergangenheit zu erschließen, verlässt nicht seine Gegenwart. Das nenne ich epistemologischen Präsentismus. Weil Historiker*innen ihrer eigenen Zeit verhaftet sind, können sie nur schwer erfassen, wo der Unterschied zwischen ihren Fragen und denen der historischen Autor*innen liegt. Dieser Unterschied sei aber ausschlaggebend dafür, Vergangenheit und Gegenwart überhaupt erst zu unterscheiden sowie etwas aus der Vergangenheit für die Gegenwart mitnehmen zu können. Retz erörtert unterschiedliche philosophische Möglichkeiten - Weltgeist, humanum, Leben, Sprache -, die eine Tür zur Vergangenheit aufstoßen. Sie alle haben mehr oder minder universalistischen Charakter. Collingwood zum Beispiel ziehe "absolute presuppositions" in Erwägung, um den Solipsismus zu überwinden, der dem Präsentismus zu eigen ist, Gadamer dagegen setze auf Tradition. Das Bestechende an Collingwoods Ansatz sei jedoch seine Wertschätzung der Alterität der Vergangenheit. Die Tugend der Historiker*innen sei nicht ihre methodische Expertise, sondern ihre Fähigkeit, sich verblüffen, zurückweisen zu lassen. Sich empathisch einzufühlen, sei, so Retz, das genaue Gegenteil.
Im dritten Teil des Buches kehrt Retz zu dem geschichtsdidaktischen Diskurs zurück, von dem er ursprünglich ausgegangen ist, und schildert das politische Hin und Her der weiteren Entwicklung. So habe der Thatcherismus seinen Wunsch nach einer faktenorientierten Nationalgeschichte nur ansatzweise durchsetzen können. Die 'big six' Seixas' konnten sich behaupten und mit ihnen die rationale Version von Empathie, die den Kontext der Quellen oder mit Collingwood die Fragen ihrer Zeit berücksichtigt. In diesem dritten Teil bezieht sich Retz auf den Einfluss Rüsens auf den anglophonen Diskurs. 2001 habe Seixas ihn zu einer großen internationalen Konferenz eingeladen, die sich um seinen Begriff des 'Geschichtsbewusstseins' drehte. Der Versuch, beide Diskurse zu verbinden, ist meines Erachtens schwierig, wenn man mehr will, als rein additiv vorzugehen. Denn Rüsen konzentriert sich auf Narrativität, Seixas und andere in der Tradition Collingwoods auf Hermeneutik, eine Argumentationslinie, die im westdeutschen Diskurs eher von Jeismann akzentuiert worden ist, der allerdings dort nicht rezipiert wird, weil seine Werke nicht ins Englische übersetzt wurden. Wir brauchen also mehr internationale Tagungen wie die, die im letzten Jahr in Graz durchgeführt worden ist [1], um unsere Positionen gegenseitig abklopfen zu können.
Retz verfolgt in seinem Buch die Absicht, einen moderaten Mittelweg zwischen epistemologischem Präsentismus und idealistischer Empathie zu finden. Dabei orientiert er sich vor allem an Collingwoods Agenda: Kritisches Nachvollziehen der Gedanken historischer Autor*innen, das von ihren Fragen, Problemen und Vorannahmen ausgeht. Ins Zentrum stellt Retz die Offenheit für die Alterität, die uns in den Quellen entgegentritt. Er lässt jedoch unberücksichtigt, was uns für diese Fremdheit empfänglich machen sollte. Könnte es so etwas wie die uninteressierte, aber ganz und gar nicht gleichgültige Neugier auf das Fremde sein?
Anmerkung:
[1] The Graz Conference 2020. Historical Consciousness - Historical Thinking - Historical Culture. Core Concepts of History Didactics and Historical Education in Intercultural Perspectives. Reflections on Achievements - Challenges for the New Generation, 11. bis 14. November 2020 in Graz.
Jörg van Norden