Rezension über:

Elisabeth Haid: Im Blickfeld zweier Imperien. Galizien in der österreichischen und russischen Presseberichterstattung während des Ersten Weltkriegs (1914-1917) (= Studien zur Ostmitteleuropaforschung; 43), Marburg: Herder-Institut 2019, VII + 296 S., ISBN 978-3-87969-432-7, EUR 55,00
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Rezension von:
Joachim von Puttkamer
Imre Kertész Kolleg, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Joachim von Puttkamer: Rezension von: Elisabeth Haid: Im Blickfeld zweier Imperien. Galizien in der österreichischen und russischen Presseberichterstattung während des Ersten Weltkriegs (1914-1917), Marburg: Herder-Institut 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 4 [15.04.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/04/35758.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Elisabeth Haid: Im Blickfeld zweier Imperien

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"Alles kann man vergessen machen, lieber Freund!" - auf diesen Satz endet der saloppe Hinweis eines Generalstäblers in Karl Kraus' Die letzten Tage der Menschheit, den Elisabeth Haid ihrer 2017 in Wien angenommenen Dissertation voranstellt. Die Rede ist von der galizischen Festung Przemyśl, die im März 1915 nach monatelanger Belagerung durch die russische Armee kapitulierte. Verkraftbar schien diese Niederlage nur, wenn in Wien vergessen gemacht wurde, wie lange sie der Stolz der österreichischen Armee gewesen war. Kriegsentscheidend war die Kapitulation tatsächlich nicht, ebenso wenig wie die Manipulationen, denen die österreichische und auf der Gegenseite auch die russische Presse während des Krieges unterlagen. Heute, einhundert Jahre später, ist die Festung Przemyśl tatsächlich weitgehend vergessen, zumindest außerhalb der Historikerzunft, und mit ihr die Bedeutung des galizischen Kriegsschauplatzes nicht nur in den ersten Monaten des Weltkriegs - zu Unrecht, wie die vorliegende Arbeit zeigt. Sie untersucht die österreichische und russische Kriegsberichterstattung zu Galizien und klopft diese darauf ab, welche Bilder der entlegenen Provinz sie den jeweiligen hauptstädtischen Lesern vermittelte. Daraus lässt sich einiges nicht nur über Kriegsziele und Propaganda, sondern auch darüber lernen, welche Zukunft die Autoren den beiden Imperien zumaßen. Das Spektrum der untersuchten Zeitungen reicht vom Russkoe Znamja und Ostdeutscher Rundschau auf der Rechten über die konservativen Novoe Vremja und Reichspost bis zu den liberalen Flaggschiffen Reč' und Neue Freie Presse. Für die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung gab es auf russischer Seite bis 1917 kein Pendant. Dennoch war die Bandbreite veröffentlichter Meinung in Russland keineswegs schmaler als in Österreich, eher im Gegenteil: Die russische Zensur verbot zwar ganze Zeitungen, verfügte aber kaum über die Mittel, die ihr vorgelegten Presseberichte flächendeckend im Detail vorab zu prüfen. Solange eine Zeitung in Petrograd überhaupt erscheinen konnte, hatte die Redaktion größere Spielräume als die Kollegen in Wien. Soweit ein erster Befund.

Inhaltlich handelt die Arbeit der Reihe nach ihre wesentlichen Themen ab. Zuerst untersucht sie allgemeine Darstellungen Galiziens und seiner Einwohner, anschließend Kriegsschauplatz und Kriegsziele, die Darstellung der galizischen Nationalitäten (einschließlich der Juden) und schließlich die expliziten und impliziten Sinnstiftungen des Krieges, soweit sie sich aus den Berichten über Galizien destillieren lassen. Die meisten Befunde sind zwar nicht eben überraschend, aber doch aufschlussreich. In Petrograd etwa fürchtete man ein Ausgreifen ukrainischer Irredenta auf das Zarenreich, in Wien hingegen den vielstrapazierten russischen Panslawismus. Hier phantasierte man davon, nun endlich alle Polen vom russischen Joch zu befreien, dort sah man die Zeit gekommen, den im habsburgischen Völkerkerker gefangenen orthodoxen Brüdern die Freiheit zu bringen. Wo die eine Seite die Treue der Ruthenen beschwor, sah die andere Verrat, und vice versa.

Aus dem Raster der meist geradezu spiegelbildlichen Darstellungen fielen die österreichische und die russische Rechte nur dort, wo sie gemeinsame antisemitische Vorurteile pflegten und der jüdischen Bevölkerung die Schuld an der Lebensmittelknappheit zuschoben. Parallelen zeigten sich auch in den Visionen für ein zukünftiges Polen. Mit fortschreitendem Verlauf des Krieges sahen nicht nur österreichische Zeitungen die Notwendigkeit einer umfassenden Neuordnung des habsburgischen Vielvölkerstaates. Auch in Petrograd wurde die liberale Reč' nicht müde, anhand des polnischen Beispiels das Scheitern der russischen Nationalitätenpolitik anzuprangern. Gemeinsam war der Presse auf beiden Seiten schließlich, dass sie das umkämpfte Galizien überhaupt erst in das öffentliche Bewusstsein rückte. Galizien war schlagartig nicht mehr Peripherie. Siegesgewiss erörterten Zeitungen in beiden Hauptstädten anhand Galiziens die Aussichten auf eine glücklichere Zukunft, entsetzt registrierten sie die Schrecken des Krieges, seine Zerstörungen und irgendwann auch seine Sinnlosigkeit. Vor allem für die Wiener Arbeiter-Zeitung wurden die galizischen Flüchtlinge zum Inbegriff unverschuldeten menschlichen Leids und zur Mahnung an einen zusehends überforderten Staat. Überhaupt lässt sich anhand der Berichterstattung über Galizien entgegen aller Zensur die fortschreitende Erosion von Kriegsbegeisterung und Kriegsbereitschaft ablesen, die sich nicht zuletzt in den Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen und vor allem politischen Neubeginn nach Kriegsende richteten. Nach Jahren der Verwüstung konnte nichts so bleiben, wie es einst gewesen war. Galizien spielte in den Visionen für die Nachkriegszeit auf beiden Seiten erneut eine zentrale Rolle, allerdings nur als Objekt weitgreifender staatlicher Neuordnung, die auf die Hoffnungen und Erwartungen seiner Bevölkerung wenig Rücksicht nahm. Ein geeintes Galizien kam in den meisten Entwürfen ohnehin nicht mehr vor. Die Teilung in West und Ost, die vor dem Krieg zu endlosen politischen Blockaden geführt hatte, schien gegen Kriegsende beschlossene Sache.

Mit gutem Grund schließt die Verfasserin den Betrachtungszeitraum mit dem Herbst 1917. Galizien war nun ganz in der Hand der Mittelmächte, im revolutionären Russland gab es größere Sorgen, und die Presselandschaft in Petrograd war mit der in Wien ohnehin kaum noch vergleichbar. Die Ausgangskonstellation, aus der die Arbeit ihren analytischen Zugriff bezieht, war also nicht mehr gegeben. Entsprechend verzichtet Haid darauf, den Nachhall veränderter Wahrnehmungen und ihrer Bedeutung für die Kriege in Galizien in den folgenden polnischen und russischen Bürgerkrieg hinein zu diskutieren. Wer jedoch der Erosion zweier Imperien nachspüren will, die siegesgewiss in den Krieg zogen, diesen zu erheblichen Teilen in und um Galizien führten und daran schließlich zugrunde gingen, dem sei die Lektüre wärmstens empfohlen.

Joachim von Puttkamer