Rezension über:

Ralph Gleis (Hg.): Dekadenz und dunkle Träume. Der belgische Symbolismus, München: Hirmer 2020, 336 S., 265 Farbabb., ISBN 978-3-7774-3507-7, EUR 45,00
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Rezension von:
Lisa Hecht
Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Lisa Hecht: Rezension von: Ralph Gleis (Hg.): Dekadenz und dunkle Träume. Der belgische Symbolismus, München: Hirmer 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/05/34818.html


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Ralph Gleis (Hg.): Dekadenz und dunkle Träume

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Im Vorwort zum Katalog "Dekadenz und dunkle Träume. Der belgische Symbolismus" kündigt Udo Kittelmann eine Publikation zur "bislang kaum wahrgenommene[n] Kunst der Jahrhundertwende aus Belgien" (14) an. Angesichts der teils überaus populären Werke, wie Fernands Khnopffs "Liebkosungen" (1896) auf dem Umschlag des abbildungsreichen Katalogs, verwundert diese Einschätzung des ehemaligen Direktors der Berliner Nationalgalerie. Nicht nur in populären Medien erfreuen sich die enigmatischen Arbeiten der Symbolisten aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert derzeit großer Beliebtheit, auch diverse Ausstellungen haben sich in der Vergangenheit dieses Themas angenommen oder sind bereits für die nächsten Jahre in Planung. [1] So stellt auch Kittelmann am Ende seines Vorwortes fest, dass sich die Berliner Ausstellung "im Zentrum einer Wiederentdeckung und musealen Neubefragung" (15) dieser Kunstströmung situiert.

Der Katalog, der sich als gewohnt ansprechende Publikation des Hirmer-Verlags präsentiert, gliedert sich in einen Essayteil, bestehend aus acht Aufsätzen, und einem Katalogteil, welcher die ausgestellten Werke thematisch unterteilt mit jeweils kurzen Einleitungen abbildet. Alle versammelten Texte zeichnen sich durch eine recht einheitliche Auffassung des belgischen Symbolismus aus. Vor allem Brüssel wird als ein Nukleus des europäischen Netzwerks aus Kunstschaffenden und Intellektuellen verstanden, welche häufig unter dem nicht immer eindeutigen Signum "Symbolismus" subsumiert worden sind. Deutlich wird dieser Begriff zusammengedacht mit dem ebenfalls für die Zeit bedeutsamen Terminus "Dekadenz". Dies führt zu einer Betonung des Morbiden und Geheimnisvollen in den betrachteten Werken. Der wirtschaftliche Aufschwung Belgiens in diesen Jahren ließe indes auch nach einer gewissen Vitalität fragen, welche der Dekadenz paradoxerweise stets innewohnt. [2]

Bereits der einleitende Aufsatz von Ralph Gleis (Leiter der Alten Nationalgalerie) ist mit den vielsagenden Schlagwörtern "Todessehnsucht und Dekadenz" überschrieben. Leichtfüßig und sehr informativ präsentiert Gleis wichtige Stationen der symbolistischen Ideengeschichte und eröffnet zugleich einen Blick in die Struktur der Ausstellung. Neben der Einführung in bekannte Sujets der symbolistischen Bildkünste - femme fatale, Traum, Okkultismus - schafft es der Autor, "viele sich geradezu aufdrängende assoziative Verwandtschaften und formale Bezüge" (23) zwischen den Werken belgischer Künstler und denen anderer europäischer Symbolisten oder Protosymbolisten aufzuzeigen. Diese Zusammenhänge werden nicht nur in den Essays, sondern auch in den ausgestellten Werken sichtbar, die in ihrer Zusammenschau das symbolistische Netzwerk zumindest in Teilen offenlegen.

Was Gleis jedoch nicht umfänglich gelingt - wohl auch in einer solchen Publikation nicht gelingen kann -, ist die kontextuelle Herleitung der vermeintlichen Umbruchsituation am Ende des 19. Jahrhunderts, welche der Katalog wiederholt heraufbeschwört. Fragmentarisch werden über die Essays hinweg einige Anhaltspunkte für die Ursachen einer zunehmenden Entfremdung sichtbar, wenn Darwins Evolutionstheorie, Charcots Experimente mit der Hypnose von Hysterie-Patientinnen, der Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs in Frankreich oder Freuds "Traumdeutung" herangezogen werden. Die Gewissheit über die Ungewissheit aller Erkenntnis scheint einer der bedeutendsten Auslöser für die Entstehung dieser teils hermetischen Werke zu sein.

Es schließt sich der Aufsatz von Hans Körner an, der sich vor allem in den 1990er Jahren mehrfach mit dem Werk Gustave Moreaus beschäftigt hat und sich hier dem Symbolismus als europäischem Phänomen annähert. [3] Dabei legt der Text den Fokus eher auf die Musik als "Leitkunst des Symbolismus" (36). Lediglich das transnationale Wirken Fernand Khnopffs wird hervorgehoben. Jane Blocks Essay zu den Ausstellungen der Künstlergruppen "Les XX" und "La Libre Esthétique", welche seit den 1880er Jahren "in ihrer gattungsübergreifenden [...] Ausrichtung bildende Kunst mit Literatur und Musik vereinten" (215), betont ebenfalls den "internationalen Schulterschluss" (44), den die jungen belgischen Künstler*innen suchten. [3]

Mit Michel Draguet, einem der wichtigsten Erforscher des Symbolismus und Surrealismus in Belgien, konnte ein weiterer Autor gewonnen werden, der Einblicke in die Ideenwelt des Symbolismus und seine Ursprünge gewährt. Draguets deutlicher Forschungsschwerpunkt in schwer zu entschlüsselnden Bildwerken lässt sich auch im Beitrag zum Berliner Katalog erkennen, wenn der Autor zuweilen derart in sein Thema vertieft zu sein scheint, dass zumindest in der deutschen Übersetzung seines Textes eine an Mallarmé und Maeterlinck geschulte Sprache den Blick auf die lehrreichen Inhalte verstellt.

Die folgenden Aufsätze zeichnen sich dann durch klarere inhaltliche Schwerpunktsetzungen aus. Johan de Smet konzentriert sich auf spannende Vergleiche, welche die Rezeption (spät)mittelalterlicher Werke im belgischen Symbolismus aufzeigen, wobei unter anderem die Herleitung von George Minnes "Jünglingsbrunnen" aus Jan van Eycks Genter Altar wichtige Denkansätze formuliert. Inga Rossi-Schrimpf liefert anschließend einen signifikanten Beitrag zu deutsch-belgischen Wechselbeziehungen im Fin de Siècle, womit sie auf ihre einschlägige Forschung auf diesem Gebiet zurückgreift. [4] Es zeigt sich, dass insbesondere die deutsche Kunstwelt großes Interesse an den belgischen Werken hatte, umgekehrt jedoch nur einige Einzelerscheinungen wie Klinger oder Böcklin in Belgien produktiv wahrgenommen wurden. Yvette Deseyve, die seit 2017 als Kuratorin in der Nationalgalerie tätig ist, legt einen Aufsatz zur symbolistischen Skulptur vor, der vor allem deshalb hervorzuheben ist, weil die Autorin nicht nur die anregenden bildhauerischen Werke in den Blick nimmt, sondern auch wegweisende Fragen zur Definition des Symbolismus stellt. Rodolphe Rapettis Aporie, ob nicht die Bindung an die Materialität die Skulptur als Antithese zum Symbolismus definiere [5], entgegnet Deseyve gekonnt mit dem Verweis auf die abstrakten Sujets, die sich beispielsweise bei Rodin, Minne oder Khnopff finden lassen. Der Essayteil endet mit Maja Brodrechts Aufsatz zur Illustrationskunst, die ebenfalls mit dem Schwerpunkt auf belgisch-deutschem Kulturtransfer betrachtet wird und die Übergänglichkeit zwischen Symbolismus und Jugendstil aufzeigt. In dichter Abfolge beschreibt die Autorin unterschiedlichste Kollaborationen von Künstlern, Literaten und Verlegern, wobei sie sich auf fruchtbare Weise Baudelaires Begriff der "Korrespondenz" zu eigen macht.

Der in 14 Abschnitte gegliederte Katalogteil führt die ausgestellten Werke in hochwertigen Abbildungen auf, verzichtet jedoch auf Einzelanalysen. Damit fügt sich die Publikation gewissermaßen in die stetig postulierte Sinnoffenheit der Werke. Ob eingehendere Kontextualisierungen und Interpretationen die symbolistischen Enigmata hätten entschlüsseln können, muss also offen bleiben. Somit ermöglicht der Berliner Katalog Einblicke in sowohl tradierte als auch neuere Forschungsansätze zur Kunst des Symbolismus. Den Lesenden und Betrachtenden wird jedoch die entscheidende Eigenleistung im Umgang mit diesen hoch individuellen Werken nicht abgenommen: Erst die subjektive Versenkung in die "dunklen Träume" kann möglicherweise zur je eigenen Beantwortung der vielfältigen Fragen führen, die diese Gemälde, Grafiken und Skulpturen an uns richten.


Anmerkungen:

[1] Michel Draguet (éd.): Le Symbolisme en Belgique, Ausst.-Kat. Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel 2010; Michel Draguet / Dominique Morel (éds.): Fernand Khnopff. Le maître de l'énigme, Ausst.-Kat. Petit Palais, Paris 2018; Anne Adriaens-Pannier (ed.): Leon Spilliaert, Ausst.-Kat. Royal Academy of Arts, London 2020.

[2] Jerome Hamilton Buckley: The Triumph of Time. A Study of the Victorian Concepts of Time, History, Progress, and Decadence, Cambridge 1966, 89.

[3] Hans Körner: Helenas Himmelfahrt. Die "femme fatale" im Werk Gustave Moreaus, in: Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen, hgg. von Alexander Schuller / Wolfert von Rahden, Berlin 1993, 227-250; ders.: "Wär schönheit nicht schon tod". Zur Schönheit von Gustave Moreaus "Salome", in: Pantheon LII (1994), 132-141.

[4] Siehe hierzu auch: Jane Block (ed.): Impressionism to Symbolism. The Beligian Avant-garde 1889-1900, Ausst.-Kat. Royal Academy of Arts, London 1994.

[5] Inga Rossi-Schrimpf: George Minne. Das Frühwerk und seine Rezeption in Deutschland und Österreich bis zum Ersten Weltkrieg, Weimar 2012.

[5] Rodolphe Rapetti: Le Symbolisme, Paris 2007, 15.

Lisa Hecht