Regina Göschl : DDR-Alltag im Museum. Geschichtskulturelle Diskurse, Funktionen und Fallbeispiele im vereinten Deutschland (= Geschichtskultur und historisches Lernen; Bd. 19), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2019, 366 S., ISBN 978-3-643-14416-4, EUR 44,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Marko Martin: Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens, Stuttgart: Tropen Verlag 2020
Rüdiger Wenzke (Hg.): "Damit hatten wir die Inititative verloren". Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90, Berlin: Ch. Links Verlag 2014
Katja Hoyer: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990, Hamburg: Hoffmann und Campe 2023
Oliver Kiechle: Fritz Selbmann als Kommunist und SED-Funktionär. Individuelle Handlungsspielräume im System. Eine politische Biographie, Düsseldorf: düsseldorf university press 2013
Robert Rauh: "Die Mauer war doch richtig!". Warum so viele DDR-Bürger den Mauerbau widerstandslos hinnahmen, Berlin: BeBra Verlag 2021
Die Musealisierung der DDR wird seit einigen Jahren intensiv beforscht. Neben Kerstin Langwagens "Die DDR im Vitrinenformat" und Christian Gauberts "Deutsche Dekorative Restbestände" stellt Regina Göschls Werk nun binnen weniger Jahre bereits die dritte vergleichende Ausstellungsanalyse dar, die sich dem Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt (DOK), dem Berliner DDR-Museum und dem zur Stiftung Haus der Geschichte gehörenden Museum in der Kulturbrauerei widmet. [1] Ist in diesem Bereich also schon alles gesagt, nur eben noch nicht von allen? Tatsächlich erfährt man bei Göschl inhaltlich kaum etwas Neues über die drei untersuchten Museen und auch die geschichtskulturelle beziehungsweise geschichtspolitische Rahmung des Musealisierungsprozesses der DDR in den 1990er und 2000er Jahren ist so oder ähnlich bereits vielfach abgehandelt worden. [2] Ihre Studie zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass sie sich ihrem Untersuchungsgegenstand aus einer dezidiert geschichtsdidaktischen Perspektive widmet. Im Zentrum steht dabei die Frage nach "dem jeweils präsentierten Geschichtsbild" der Ausstellungen sowie den "Musealisierungsstrategien" und "institutionellen Rahmenbedingungen" durch die es geprägt werde (12). Neben dem von Karl-Ernst Jeismann maßgeblich entwickelten Begriff des Geschichtsbildes rekurriert Göschl im theoretischen Vorspann ihrer Arbeit vor allem auf Jörn Rüsens Überlegungen zur Geschichtskultur und Bernd Schönemanns Typologie geschichtskultureller Leitmuster. [3] Diese theoretischen Grundlagen kombiniert sie mit kultursemiotischen und diskursanalytischen Untersuchungsmethoden, wie sie insbesondere von Jana Scholze sowie Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch für die Ausstellungsanalyse operationalisiert worden sind. [4]
Die sich hier bereits andeutende "Komplexität der Ausstellung als Zeichensystem" (93) ermöglicht einerseits eine Vielzahl an Fragestellungen, Perspektiven und methodischen Zugriffen, die Göschl in ihren Ausstellungsanalysen immer wieder gewinnbringend aufeinander bezieht. Sie birgt aber andererseits auch die Gefahr, die zahlreichen Facetten des Untersuchungsgegenstandes zum Teil nur kursorisch und oberflächlich behandeln zu können. Dies zeigt sich etwa an einem eingangs eingeschobenen Exkurs zur "Entstehung des modernen Museums", einem dreiseitigen Parforceritt durch die Institutionengeschichte des Museums vom Jahr 1565 bis in die Gegenwart (22-25). Dieser zeugt zwar von großer Sachkenntnis, läuft in seiner Kürze jedoch Gefahr, eine simple Fortschrittsgeschichte einer immer weiter fortschreitenden Öffnung und "Demokratisierung des Museums" (24) nahezulegen. Eine ähnliche Problematik zeigt sich auch im anschließenden Kapitel zum Forschungsstand, das sich hinsichtlich der Alltagsgeschichtsschreibung in der DDR größtenteils auf ein Interview der Autorin mit dem Gründer des DOK Andreas Ludwig stützt. Dieser wird unkommentiert mit den Worten paraphrasiert, dass sich "[l]ediglich Hartmut Zwahr [...] als Historiker in der DDR ansatzweise mit alltagsgeschichtlichen Themen beschäftigt" habe (31). Dabei hätte bereits eine kurze Suche zumindest Jürgen Kuczynskis "Geschichte des Alltags des deutschen Volkes" zutage fördern müssen. [5]
Die gut 200 Seiten umfassenden Museumsanalysen bilden den empirischen Hauptteil des Buches. Sie sind durchweg methodisch fundiert und kohärent strukturiert: Den Auftakt bildet stets eine Institutionenanalyse des jeweiligen Museums, die dessen Entstehung, Trägerschaft, konzeptionelle Leitlinien, diskursive Verortung und so weiter erörtert. Darauf folgt eine Ausstellungsanalyse, die sowohl Fragen des musealen Gesamtnarrativs als auch einzelne Objekte beziehungsweise Objektgruppen in den Blick nimmt. Göschls Hypothese, "dass Ausstellungen vornehmlich Geschichtsbilder präsentieren, da es sich dabei zumeist um geschlossene Konzeptionen handelt" (26), findet sich hier weitgehend bestätigt, wobei dem DOK Eisenhüttenstadt allerdings ein vergleichsweise hohes Maß an Deutungsoffenheit zuerkannt wird. Dessen Geschichtsbild charakterisiert Göschl in der abschließenden Zusammenführung ihrer drei Analysen als "Leben mit der Diktatur" (gekennzeichnet durch eine Verschränkung von Alltag und Herrschaft). Im Berliner DDR-Museum gehe es hingegen um "Leben trotz der Diktatur" (dichotome Trennung von Alltag und Herrschaft) und in der Kulturbrauerei um "Leben in der Diktatur" (Allgegenwart von Herrschaft im Alltag) (310-314). Zugleich ordnet die Autorin die drei Museen den von Bernd Schönemann entwickelten geschichtskulturellen Leitmustern "Geschichte als Bildung" (DOK Eisenhüttenstadt), "Geschichte als Erlebnis" (DDR-Museum Berlin) und "Geschichte als Nutzen" (Museum in der Kulturbrauerei, das aber auch bei den anderen beiden Leitmustern Anleihen nehme) zu (310-314). Diese Zuordnung ist zwar schlüssig, beinhaltet aber auch eine normative Ausdeutung von Schönemanns analytischer Typologie: Göschls Präferenz liegt eindeutig auf der im DOK manifesten "Geschichte als Bildung", während sie die erlebnisorientierten "Hands-on-Tätigkeiten" des Berliner DDR-Museums zum Teil als "Selbstzweck" abtut, die "im Kern nicht zu einer Einsicht über den Alltag in der DDR" führen würden (310-311). Hier zeigt sich ein Festhalten an einem klassischen Lernparadigma, das der Funktionsweise historischer Ausstellungen und auch dem theoretischen Zuschnitt der Studie selbst nur unzureichend gerecht wird.
Trotz einiger Schwächen nimmt der interdisziplinäre theoretische Zuschnitt der Studie die Komplexität und Vielgestaltigkeit der Institution Museum ernst. Daher ist das Werk "DDR-Alltag im Museum" sowohl für Historiker*innen als auch für Museums- und Kulturwissenschaftler*innen überaus lesenswert.
Anmerkungen:
[1] Kerstin Langwagen: Die DDR im Vitrinenformat. Zur Problematik musealer Annäherungen an ein kollektives Gedächtnis, Berlin 2016; Christian Gaubert: DDR: Deutsche Dekorative Restbestände? Der DDR-Alltag im Museum, Berlin 2019.
[2] Vergleiche Carola Rudnick: Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989, Bielefeld 2011.
[3] Karl-Ernst Jeismann: Geschichtsbilder. Zeitdeutung und Zukunftsperspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51-52 (2002), 13-22; Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln [u.a.] 2013; Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur, in: Geschichtskultur. Theorie - Empirie - Pragmatik, hgg. von Bernd Mütter [u.a.], Weinheim 2000, 26-58.
[4] Jana Scholze: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld 2004; Roswitha Muttenthaler / Regina Wonisch: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld 2006.
[5] Jürgen Kuczynski [u.a.]: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes. 1600-1945, Studien (1-5), Berlin (DDR) 1980-1982.
Julian Genten