Florian Hannig: Am Anfang war Biafra. Humanitäre Hilfe in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M.: Campus 2021, 344 S., ISBN 978-3-593-51338-6, EUR 45,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Tim Geiger / Matthias Peter / Mechthild Lindemann (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1983, München: Oldenbourg 2014
James Sheehan: Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden. Aus dem Englischen von Martin Richter, München: C.H.Beck 2008
Barbara Becker-Jákli: Das jüdische Krankenhaus in Köln. Die Geschichte des Israelitischen Asyls für Kranke und Altersschwache 1869-1945, Köln: Emons Verlag 2004
"The [Nigerian Civil] war became the first postcolonial conflict to engender a global surge of humanitarian sentiment and activism", betont Lasse Heerten einleitend in seiner Studie zum Krieg in Nigeria zwischen der Zentralregierung und der abtrünnigen Provinz 1968-1970 [1]. Ganz ähnlich scheint Florian Hannig, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Gießen, der mit dieser Studie 2017 in Halle promoviert wurde, zu argumentieren, wenn er titelt "Am Anfang war Biafra". Nur schreibt er fast sein halbes Buch über Nothilfe und anderes, bis er überhaupt beim postulierten Anfang, dem Biafrakrieg, angelangt ist. Ihm geht es in einem vom Politikfeld her argumentierenden Ansatz darum, zu zeigen, wie es überhaupt dazu kam, dass sich humanitäre Hilfe etablierte, und zwar weltweit. Das gelang, laut dem Autor, immer dann, wenn sich die Einsicht durchsetze, dass dauerhaftes Handeln vonnöten sei.
Hannig setzt ein mit den USA im Zweiten Weltkrieg und diversen Hilfsfonds für geschädigte Länder, von Finnland bis China. Traditionell legte man dort Wert auf private Aktionen, vornehmlich der Kirchen und des Roten Kreuzes. Es kam zu staatlich-privater Zusammenarbeit und 1943 zur Gründung der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), also des Kriegsbündnisses von 44 Nationen weltweit, das vielfältige Nothilfe in Europa, Asien und Nordafrika organisierte. Dabei war auch bereits der Gedanke an Herstellung politischer Stabilität ein Motiv, "relief" und "rehabiliation" bildeten jedoch die programmatischen Schwerpunkte. Nach Kriegsende (bald ohne die Sowjetunion) verlagerte sich der Fokus auf Flüchtlinge und deren Rückführung. Im UN-Rahmen, aber maßgeblich von den USA unterstützt, bildete sich so eine gesonderte Flüchtlingsorganisation IRO, dann u. a. die heute noch bedeutsamen Organe der Vereinten Nationen wie UNICEF, UNHCR sowie die WHO und FAO. In diesen wurden neben Regierungen auch gesellschaftliche Organisationen wichtig.
Seit den 1950er Jahren bekam die ursprünglich kurzfristig konzipierte Nothilfe weitere langfristige Aspekte, nämlich solche der Entwicklungspolitik. Die Einsätze in der Nothilfe waren an einzelnen Kriegs- und Krisensituationen orientiert - von Indien über Palästina und Korea bis Ungarn. Der Autor geht hier auch Aktivitäten sozialer Akteure wie einigen privaten Stiftungen nach (Ford, Rockefeller), jedoch wurde die Abhängigkeit von solcher Hilfe bei vielen Nehmer-Regierungen als problematisch angesehen. Hannig spricht von einem "Abstieg von Nothilfe zum Gegenkonzept von Entwicklung" seit den späten 1950er Jahren. Auch die junge Bundesrepublik engagierte sich zunächst in Nothilfefällen in Europa, die auch hier Ende der 1950er Jahre stärker in ein Konzept von Entwicklung auch außerhalb Europas überging.
Hannig erarbeitet diese vielfältigen Entwicklungen vornehmlich aus der bisherigen Forschungsliteratur, aber für die Bundesrepublik auch aus dem Archiv des Auswärtigen Amts und für die USA aus Präsidentenarchiven. Er geht dann dazu über, archivgestützt anhand von Eingaben von Bürgern in den USA und der Bundesrepublik auch die - programmatisch von ihm erstrebten - emotionalen Aspekte einzubeziehen. Die Politisierung der Nothilfe und die stärkere Betonung von Entwicklungshilfe führten für ihn jedoch weder auf UN-Ebene, noch in den USA oder der Bundesrepublik zu einheitlichen Konzepten.
Das ist der Punkt, an dem Biafra ab 1967 und letztlich bis 1970 hinzukam: der nigerianische Bürger- oder Sezessionskrieg, hier mehrfach merkwürdig als Krieg zwischen Biafra und Nigeria benannt. "Aufmerksamkeit und Hilfe" sind hier die Filter. Die Wahrnehmung in den USA und der Bundesrepublik durchlief mehrere, nicht kongruente Phasen. In Westdeutschland gehörten dazu etwa die deutsch-deutsche Konkurrenz, die Verfolgung von Christen durch Muslime, die Erinnerung an den Holocaust und damit die Stilisierung auch dieses Konfliktes zum Genozid. Hierzu wird eher breit denn tief ein dichtes Meinungsbild aus US-Archiven und denen der Bundesrepublik gezeichnet, vor allem Zeitungsartikel werden ausführlich referiert (merkwürdigerweise zunächst nicht mit Nennung der Verfasser, nur mit der der Medien). Die "deutsche Bundesregierung" hatte Schwierigkeiten, sich weiter neutral zu verhalten, nicht zuletzt aus "strategischen und wirtschaftlichen Interessen" (201). Gerade Korrespondenten oder Reporter vor Ort verbreiteten auch in Bildern das Leidens- und Gräuelnarrativ, und es entstand eine öffentliche Tendenz, diesen Krieg der Zentralregierung gegen die abtrünnige Provinz als Anfang eines weltpolitisch dauerhaften Problems zu sehen. Biafranische professionelle PR-Propaganda wird ausführlich vorgeführt, jedoch nicht für entscheidend gehalten. Solidaritätskomitees der "neuen Linken" bemühten sich, über konkrete Hilfe hinaus Deutungen vom Klassenkampf einzubringen. Eingaben an Regierungen in Washington und Bonn forderten vor allem ein Ende der Hungerkatastrophe, wie ausführliche Zitate des Autors belegen. Es folgt noch ein merkwürdiger Nachklapp über die (erfolgreiche) Sezession Ostpakistans (Bangladesch) von (West-)Pakistan 1971 mit genozidalen Vorkommnissen und Hungersnöten: Sie wies vergleichbare Züge wie Nigeria auf, wird aber methodisch behandelt, um die Reaktion eines Empfängerlandes einzubeziehen, was für Nigeria aus Quellengründen nicht möglich gewesen sei.
Den Regierungen der USA und der Bundesrepublik gelang bei Nigeria die "Aufmerksamkeitskontrolle" immer weniger, sie sorgten sich "um Reputation und Ansehen" (274). Auch wenn die Gewaltsituation mit dem militärischen Sieg der Zentralregierung 1969 abflaute, meint Hannig, "die Flut an Informationen und Bildern, die sich aus den Kriegsgebieten [in die USA und BRD] ergoss, führte zu ausreichend großem politischen Druck, um humanitäre Hilfe schließlich institutionell zu verankern. [...] Dieser 'Druck der Öffentlichkeit' markierte einen neuen Faktor in der Geschichte der humanitären Hilfe" und machte sie zum "politischen Feld" (322). Das "Anfang"-Postulat im Titel bezieht sich also eher auf eine Verstärkung vielfältiger Hilfsleistungen seit dem Zweiten Weltkrieg und kann so in der Tradition berühmter "Anfangssätze" in der Historiographie von Nipperdey bis Wehler gelesen werden.
Hannig benennt einleitend fünf Faktoren, warum er Biafra als Untersuchungsgegenstand wählt. Sie wurden zumeist bereits genannt: von Missionaren über PR-Agenturen, Solidaritätsgruppen, Bildgebung und NS-Analogie. Er findet alle diese Faktoren auch bei seinem Vorgänger Heerten, der aber "eher beschreibt als erklärt, [...] ohne dass allerdings ihre Wirkung beurteilt und ihre Reichweite bewertet wird" (16). Ich kann nicht finden, dass Hannig in diesen Fragen größere Klarheit schafft, auch wenn er zu allen Ansätzen viele Zitate aus Quellen eher additiv beibringt. Wohl aber bettet Heerten seine Studie sehr viel breiter in eine globaler werdende Welt ein, bezieht explizit die ehemalige nigerianische Kolonialmacht Großbritannien ein. Er startet sehr viel genauer bei der Unabhängigkeit Nigerias 1960 und erklärt die Schwierigkeiten der postkolonialen Staatsbildung. Er erkennt in seiner außerordentlich reflektierten Studie bei Biafra einen Übergang von einem antikolonialen Menschenrechtsdiskurs und zu einem postkolonialen. Ähnlich wie Hannig spricht er von der Wandelbarkeit historischer Begriffe wie der der Menschenrechte, die als besonders formbare Orientierung angesehen werden. Er sieht in den humanitären Appellen von Afrikanern eher eine Entpolitisierung dieser Entwicklung in der aufkommenden 'Dritten Welt'.
Das ist bei leicht anderer, aber stärker zupackender Argumentation bei Heerten ähnlich wie bei Hannig. Aber insgesamt ist die ältere Arbeit eher aus einem Guss differenzierter Argumente gearbeitet als die hier vorgestellte, vier Jahre später erschienene. Hannig weist bisweilen auf ein paar ältere Aufsätze von sich hin, die die grundlegenden Argumentationsmuster seines Buches enthielten. Dieses hat seine Verdienste, doch reicht sein Ansatz "Politikfeld" und die Konzentration auf internationale wie nationale Institutionen weniger weit als der seines Vorgängers. Es wäre gut gewesen, wenn sich Hannig stärker auf diese eingelassen hätte und hier methodisch Gedanken zu Globalisierung, Dekolonisierung, Staatlichkeit, Politikverflechtung, Menschenrechten und Humanitarismus weiterentwickelt hätte.
Anmerkung:
[1] Lasse Heerten: The Biafran War and Postcolonial Humanitarianism. Spectacles of Suffering, Cambridge u. a. 2017, 2.
Jost Dülffer