Felix Hinz / Andreas Körber (Hgg.): Geschichtskultur - Public History - Angewandte Geschichte. Geschichte in der Gesellschaft: Medien, Praxen, Funktionen (= UTB; 5464), Stuttgart: UTB 2020, 640 S., ISBN 978-3-8252-5464-3, EUR 40,00
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Felix Hinz und Andreas Körber haben ein neues Handbuch zur Geschichtskultur vorgelegt, welches - geschichtsdidaktischen Maximen folgend - Geschichtskultur multiperspektivisch betrachtet. Es fragt nach dem Spektrum öffentlicher Artikulationen von Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft und den Wegen, diese zu erforschen. Den Herausgebern ist wichtig, unter dem Blick einer "spezifisch didaktische[n], dabei aber analytische[n] und reflektierende[n] Haltung", die "jeweiligen unterschiedlichen Logiken und Formen historischen Lernens wie auch die jeweiligen Ansprüche an und Beiträge zu historischem Lernen in der Gesellschaft" zu erkunden (14). Das Werk enthält daher 20 Einzelstudien zu Medien und Institutionen der Geschichtskultur, eine acht Beiträge umfassende Reflexion und ein Fazit der Herausgeber.
Die Einzelanalysen weisen eine Besonderheit auf: Sie sind überwiegend im Modus der Kollaboration verfasst. Jeweils eine akademisch forschende Person schreibt gemeinsam mit einer weiteren aus dem jeweiligen Praxisfeld. Dem Leitfaden der Herausgeber folgend stellen die meisten Texte zunächst eine Charakterisierung der jeweils behandelten Form vor und fragen nach Akteur:innen und Rezipient:innen. Sie reflektieren Fremdwahrnehmungen im Sinne des Images einzelner Medien und Institutionen und Problemfelder. Diese werden als gängige oder gegenwärtige Kritiken am Medium/einer Praxis oder Institution unter normativen Gesichtspunkten der Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins definiert.
Grundsätzlich lassen sich die Studien mit Gewinn lesen. Der Zugriff ist innovativ und das Arbeiten in Teams zeigt sein Potenzial - etwa, wenn Tanja Kinkel als Autorin historischer Romane (mit Felix Hinz) Rückmeldungen von Lesenden einordnet, Konstantin Voigt und Vladimir Ivanoff faszinierende Einblicke in die Produktionsbedingungen von historisierender Musik aus dem Mittelalter gewähren oder Stefan Mausbach und Stefan Benz in Ansätzen erläutern, wie auf dem internationalen Markt TV-Geschichtsdokumentationen gehandelt werden. Die Arbeit mit Praktiker:innen bedeutet aber manchmal, dass Verallgemeinerungen auf der Erfahrung einer Redaktion, eines Büros oder eine:r Regie-führenden Person beruhen und die Perspektivität dieser Analyse nicht immer deutlich zu erkennen ist.
Die Zugriffe sind vielseitig, jedoch ist nicht immer klar, warum bestimmte Medien einerseits ausgewählt wurden, andererseits Institutionen oder Beschäftigungsstrukturen. Geschichtsbüros produzieren etwa Ausstellungen und Sachbücher, und werden in einem Einzelbeitrag als wichtige Akteure der Geschichtskultur vorgestellt. Freelancer oder Selbständige, die einen nicht unerheblichen Teil der ausgebildeten Historiker:innen jenseits von Schule und Universität darstellen, kommen indes nicht zu Wort. Im Gegensatz zum sehr kompakten Beitrag zu "Geschichtsmuseen und Dokumentationszentren" (Julia Kruse/Hannes Liebrandt), sind Geschichtsvereine (Manfred Treml/Ernst Schütz) und Geschichtswerkstätten (Bernhard Schoßig/Maximilian Strnad) mit jeweils einem eigenen Beitrag bedacht, obwohl beide im Vereinsmodus agieren. Gerade hier hätte sich ein Blick nach Ostdeutschland gelohnt.
Natürlich kann ein solcher Band nicht alle aktuellen medialen Formen, Praxen und Institutionen von Geschichtskultur umfassen. Es fällt aber auf, dass bei der filmischen Darstellung von Geschichte ein Beitrag zu Serien fehlt. Formate wie "Downtown Abbey", "Rome" oder "Bridgerton" und ihre Vermarktung verweisen auf Veränderungen im Feld und sprechen ein jüngeres Publikum an, das Dokumentationen oder Spiel- und Kinofilme nicht erreichen. Zudem fehlt ein Beitrag zu Archiven, den klassischen Hütern (bürgerlicher) Vergangenheit, die inzwischen oft über ein pädagogisches Profil verfügen. Durchaus bewusst ist den Herausgebern die geringe Repräsentanz digitaler Formate (592), so etwa digitale Repositorien und Ausstellungen (wie Europeana), Geschichte in der Wikipedia oder in Social Media, wie etwa YouTube, Instagram und Twitter.
Den zweiten Teil bilden acht Beiträge, die einmal entlang der der Dimensionen Politik, Moral, Religion und "Geschichte als sozialer Fluchtort" auf Geschichtskultur blicken und zum anderen über einen epochalen Zugriff eine Analyse verfolgen. Die ersten vier Studien orientieren sich am erweiterten geschichtskulturellen Modell Jörn Rüsens [1]; teilweise arbeiten sie deutlich Bezüge zu den Einzelstudien im Band heraus. Wünschenswert bei der Auseinandersetzung mit sozialen Funktionen von Geschichtskultur wäre allerdings ein Bezug zur prosperierenden Nostalgie-Forschung aus der Public History gewesen, oder eine kritische Reflexion des Ansatzes von Marko Demantowsky zur Public History als Identitätsdiskurs. [2]
Der epochale Zugang wiederum soll mit der klassischen Einteilung Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit und Neuzeit/Zeitgeschichte eine chronologische Tiefenstruktur aufzeigen. Die Autor:innen stehen dabei vor der (fast unmöglichen) Aufgabe, nicht nur empirisch belegbare Hauptrezeptionsformen der jeweiligen Epoche in deutschsprachigen Medien und Institutionen festzuhalten, sondern auch - wo möglich - die Einzelstudien einzuordnen. Konkretionen können da bisweilen eklektisch wirken. Zudem hätte die Ur- und Frühgeschichte berücksichtigt werden können, da sie in der Geschichtskultur vielfältig thematisiert wird. Außerdem muss gefragt werden, ob der an schulischen Curricula und universitären Strukturen orientierte Zugriff die gegenwärtige Geschichtskultur optimal erfasst.
Geschichtskulturelle Institutionen sind oft interepochal aufgestellt. Ließe sich Geschichtskultur eventuell besser entlang räumlicher Dimensionen erfassen, etwa über Achsen des Lokalen (Geschichtsverein), Regionalen (Landesmuseum), Nationalstaatlichen (Fernsehen, Geschichtsmagazine) oder Globalen (Spielemarkt), oder eben generell über thematischen Zugriffe (Heimat, Technik, Migration, Gender, Umwelt o.ä.)? Kreuzt man also chronologische mit anderen Zugängen, so zeigt sich eher, wo Fragen der Gegenwart, aber auch etablierte Popularisierungsmechanismen oder neue Medienlogiken öffentliche Geschichte determinieren.
Abschließend ziehen die Herausgeber eine Bilanz. Sie stellen behutsam die Frage nach Determinanten der deutschsprachigen Geschichtskultur und bieten erste Thesen zur weiteren Diskussion an. Konsequent schließen sie mit Maximen für zukünftige Ausbildungsansätze und Konkretionen für die Geschichtslehrer:innenbildung.
Das Handbuch lässt sich vor allem aus der entsprechenden Tradition in der Geschichtsdidaktik verstehen. Hier besetzt es nicht nur erfolgreich neue Bereiche jenseits der klassischen Zugriffe auf Medien und Methoden im Geschichtsunterricht [3] oder der Handbücher "Praxis des Geschichtsunterrichts" [4], sondern kann Perspektiven aufzeigen, die in jüngeren Publikationen zur Geschichtskultur im Unterricht nicht zu finden sind. Die Herausgeber haben zudem für die Einzelanalysen ein Framing vorgegeben, welches didaktische Fragen über den Geschichtsunterricht hinaus aufwirft.
Diese Stärke des Bandes als neuem geschichtsdidaktischem Ansatz muss jedoch am Framing des Titels gemessen werden, der ebenso die Begriffe Public History und Angewandte Geschichte aufführt. Allein Geschichtskultur fungiert jedoch im gesamten Band als Leitbegriff, und nur dieser wird in der Einleitung systematisch in einem breiten und aktuellen Forschungszugriff erläutert. Von den 31 wissenschaftlich tätigen Autor:innen stammen nur fünf nicht aus der Geschichtsdidaktik. Wäre dieser Pool erweitert worden, hätte der signifikant niedrige Anteil an Autorinnen erhöht werden können. Die Begriffe Public History und Angewandte Geschichte werden in zwei kurzen Absätzen in der Einleitung abgehandelt, die weder den internationalen, noch den intensiven deutschsprachigen Diskurs wiedergeben. Hier hätten die Herausgeber ihre implizite These des Leitkonzeptes Geschichtskultur im Titel transparent gestalten können. Denn dieser Fokus zeigt sich deutlich im Leitfaden zu den Einzelanalysen. Er fragt explizit nicht nach grundlegenden Forschungsmethoden zur Erschließung von Phänomenen öffentlicher Geschichte, setzt aber mit dem Fokus auf Problemlagen und Lernrelevanz einen normativen geschichtsdidaktischen Schwerpunkt. Dieser ist für Public Historians keineswegs vernachlässigbar, die Public History geht aber in diesen Kernfragen der Geschichtsdidaktik nicht auf. Einige Fehler in Bezugnahmen zwischen Einzeltexten, und vor allem mehrere unvollständige Literaturverzeichnisse der Beiträge sowie der unklare Aufbau und Umfang des zentralen Literaturverzeichnisses im Anhang hätten durch ein sorgfältigeres Lektorat vermieden werden können.
Insbesondere die Einzelanalysen sind für interessierte Dozent:innen, Studierende aus Lehramt, Public History und klassischer Geschichtswissenschaft eine gute beschreibende Einführung in frühere und gegenwärtige Diskurse. Die Zwischenbilanzen des Bandes können vor allem gewinnbringend als Grundlage genutzt werden, um mögliche Determinanten deutschsprachiger Geschichtskulturen zu diskutieren. Ebenso lädt das Fazit der Herausgeber zum Diskurs auch über die Geschichtsdidaktik hinaus ein. Sie loten die Grenz(übergäng)e der Geschichtsdidaktik aus - das wird die Disziplin bereichern, wenn zukünftig noch stärker Erkenntnisse der Public History Forschung einbezogen werden.
Anmerkungen:
[1] Jörn Rüsen: Die fünf Dimensionen der Geschichtskultur, in: Jacqueline Nießer / Juliane Tomann (Hgg.): Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit, Paderborn 2014, 46-57.
[2] Marko Demantowsky: What is Public History, in: ders. (ed.): Public History and School. International Perspectives, Berlin / Boston 2018, 3-37.
[3] Hans-Jürgen Pandel (Hg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, 7. erw. Auflage, Schwalbach 2017; Ulrich Mayer (Hg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, 5. Aufl. Schwalbach/Ts. 2016.
[4] Michele Barricelli / Martin Lücke (Hgg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, 2 Bde., Schwalbach 2017.
Christine Gundermann