Martin Nitsche: Beliefs von Geschichtslehrpersonen - eine Triangulationsstudie (= Geschichtsdidaktik heute; Bd. 10), Bern: hep Verlag 2019, 356 S., ISBN 978-3-0355-1600-5, EUR 40,00
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Professionalität von Lehrkräften ist ein wichtiges Forschungsfeld der Geschichtsdidaktik und greift hierfür insbesondere auf das Konzept "Überzeugungen" beziehungsweise "Beliefs" zurück. Martin Nitsche will mit seiner Dissertation "Beliefs von Geschichtslehrpersonen - eine Triangulationsstudie" das Feld grundlegend angehen und das Zusammenspiel von geschichtstheoretischen und geschichtsdidaktischen Überzeugungen sowie deren Berücksichtigung in der Unterrichtspraxis von Lehrpersonen quantitativ und qualitativ untersuchen. Um bestehende Lücken zu schließen, soll so ein Modell dieser Überzeugungen entstehen und ein Instrument, um diese zu erheben.
Im Einzelnen schlüsselt er sein Vorhaben in sechs Fragen auf: 1. Wie lassen sich epistemologische und lehr-lerntheoretische Beliefs von Geschichtslehrpersonen modellieren? 2. Welche statistischen Zusammenhänge bestehen zwischen beiden Beliefsgruppen? 3. Welche Einflüsse haben schulische und akademische Ausbildung auf diese? 4. Welche qualitativen Zusammenhänge bestehen zwischen Fragebogenbefunden und der Unterrichtspraxis? 5. Wie lassen sich diese Zusammenhänge, aber auch Abweichungen erklären? 6. Inwiefern passen qualitativ erfasste Überzeugungen und Unterrichtspraxis zusammen? Den Leitbegriff "Überzeugungen" definiert Nitsche dabei bewusst offen als "individuelle[] Konstrukt[e]", die sich auf mehrere Aspekte beziehen können, als wahr betrachtet werden und nicht zwingend bewusst sind (138). So kann er methodisch flexibel bleiben und greift der empirischen Erkundung nicht vorweg.
Seine erste Frage nimmt er zum Anlass für eine umfangreiche Sichtung bisheriger Studien, sowohl domänenübergreifend als auch fachspezifisch und geordnet nach den Bezugspunkten der Überzeugungen: solchen zur Natur und Entstehung von Wissen (Epistemologien) stellt er jene zu Lehr-Lern-Prozessen gegenüber. Dabei legt er sorgfältig normative Vorannahmen offen und diskutiert auch äußere Einflüsse auf Beliefs. Sein eigenes Modell bindet er zusätzlich an geschichtstheoretische und geschichtsdidaktische Paradigmen, die sich gut mit den empirischen Zugängen verknüpfen lassen. An geschichtstheoretischen Positionen unterscheidet er Positivismus (Vergangenheit ist abbildbar), Skeptizismus (Geschichte ist eine rein subjektive Deutung) und narrativen Konstruktivismus (Geschichte ist eine nachvollziehbare Rekonstruktion), die er unter anderem hinsichtlich Rechtfertigungsstrategien oder Anwendung historischen Wissens elaboriert (127). Inhaltlich eng damit verbunden sind seine drei geschichtsdidaktisch Überzeugungen (129/130), also Transmission (Weitergabe beziehungsweise Nachvollzug von Geschichte), individueller Konstruktivismus (selbstorganisierte Konstruktion) und Sozialkonstruktivismus (Kokonstruktion und Aushandlung von Geschichte). Großen Wert legt er darauf, dass es sich um kein Stufenmodell handele, sondern die jeweils drei Überzeugungen nebeneinander stehen. Aus den geschichtsdidaktischen Beliefs leitet er außerdem Strukturmerkmale von Unterricht ab, also etwa bevorzugte Sozialformen oder Phasierungen.
Wie im Titel angekündigt, handelt es sich um eine Triangulationsstudie, die auf mehrfache Verschränkung von Theoriebildung, Datenerhebung und Auswertung angelegt ist. Im Kern besteht das Design aus einer Fragebogenerhebung mit 186 angehenden Lehrkräften, um Beliefs und Sozialisationsfaktoren aufeinander zu beziehen, und einer qualitativen Vertiefung mit zwei erfahrenen Lehrkräften.
Nitsche präsentiert zwei selbstentwickelte Instrumente: den "Epistemological Beliefs Questionnaire in History" (EBQH) und den "Teaching and Learning Beliefs Questionnaire in History" (TLBQH), die auf mehrstufiger Pilotierung beruhen und seine postulierten Beliefs zu Geschichtstheorie und Geschichtsdidaktik mit akzeptabler Kohärenz der Skalen messen. Die entsprechenden Überprüfungen und Kennzahlen werden ausführlich dokumentiert, können jedoch abschreckend wirken, wenn man mit Statistik wenig vertraut ist. Die Struktur seines Modells ließ sich so bestätigen. Ebenfalls bestätigt wurde seine Hypothese, dass es keine systematischen Zusammenhänge zwischen geschichtstheoretischen und geschichtsdidaktischen Überzeugungen gibt, obwohl dies inhaltlich naheliegen würde. Seine weiteren Hypothesen beziehen sich auf die Wirkung denkbarer Einflussgrößen auf die Beliefs. Hier zeigen die Daten größtenteils widersprüchliche beziehungsweise nicht erkennbare Effekte hinsichtlich akademischer Lehrveranstaltungen und eigener Schulerfahrungen. Ausnahmen sind der sozioökonomische Status der Eltern und Studiendauer, die mit skeptischen und narrativ-konstruktivistischen Beliefs zur Geschichtstheorie einhergehen, und eine Stärkung transmissiver Beliefs in Folge geschichtsdidaktischer Lehrveranstaltung und zunehmender Unterrichtserfahrung.
Um qualitative Zusammenhänge zwischen Überzeugungen und Unterrichtspraxis zu erkunden, wertet Nitsche vier videografierte Unterrichtsstunden zweier Lehrkräfte und jeweils anschließende Stimulated-Recall-Interviews mittels qualitativer Inhaltsanalyse aus. Die Stunden werden anhand ausführlicher Transkriptauszüge vorgestellt und jede Phase als ausschließlich positivistisch-transmissiv klassifiziert, obwohl beide Lehrpersonen diese Beliefs im Fragebogen ablehnten. In den Interviews zeigen sie vielfältigere Ansichten, beziehen auch sozial-konstruktivistische oder hermeneutische Positionen (letzteres für Nitsche eine Zwischenform von positivistischen und skeptizistischen Ansätzen), argumentieren vielfach aber fachunspezifisch. Diese Diskrepanzen sind erklärungsbedürftig und Nitsche konstatiert einen Mangel an geeigneten und bekannten Methoden, um geschichtstheoretische Beliefs in Unterrichtskonzepte zu überführen.
Vielleicht zeigen sich hier aber auch Tücken im Design. Der qualitative Teil der Arbeit ist zwar deutlich umfangreicher als der quantitative, fügt sich aber weniger gut in die Anlage mit umfangreicher Modellierung im Vorfeld ein. Nitsche codiert zumeist deduktiv und sucht nach Entsprechungen seiner recht eng definierten Kategorien. So äußert er zwar mehrfach Unsicherheiten und sieht mögliche Ansätze für sozial-konstruktivistische Zugänge, klassifiziert die Passage aber letztlich als transmissiv und erweckt damit den Eindruck, es handele sich doch um eine Stufe, deren Überwindung eine Niveausteigerung bedarf. Gleichzeitig bleibt unklar, wie alternative Zugänge zu den besprochenen Themen oder Materialien aussehen könnten und ob diese überhaupt im Rahmen des erarbeitenden Geschichtsunterrichts denkbar sind.
Dabei können die Ergebnisse durchaus spannende Fragen für künftige Studien aufwerfen: Wie erleben die Lehrkräfte den institutionellen Rahmen ihres Unterrichts und welche selbstgesetzten Ziele halten sie innerhalb dessen für möglich? Welchen Stellenwert haben unter diesen Umständen fachspezifische Überzeugungen? Nitsche selbst plädiert auch dafür, sich dem Gesamtsystem der Beliefs zu widmen, um Gewichtung und Zusammenspiel der verschiedenen Beliefs zu erkunden (287).
Die Kritik an der qualitativen Analyse soll den Wert der Literaturarbeit, Modellierung der Beliefs und quantitativen Befunde nicht schmälern. Eine besondere Stärke liegt im sehr transparenten Vorgehen und den hilfreichen Tabellen. In theoretischer Hinsicht steckt Potential in der Unterscheidung individuellen und sozialen Konstruktivismus und den unterrichtsmethodischen Implikationen hieraus. Nitsche hat sich ein umfassendes Thema vorgenommen und so weit bearbeitet und strukturiert, dass seine Arbeit einen nicht zu ignorierenden Ausgangspunkt für weitere Studien ist. Solchen stehen nun auch erprobte Instrumente und Modelle zur Verfügung.
Daniel Münch