Hillard von Thiessen: Das Zeitalter der Ambiguität. Vom Umgang mit Werten und Normen in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 447 S., ISBN 978-3-412-52120-2, EUR 60,00
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In den letzten Jahren hat sich die Geschichtswissenschaft verstärkt mit dem Thema der Ambiguität beschäftigt.[1] Hillard von Thiessen legt nun als erster den Versuch einer systematischen Erzählung der Geschichte der Ambiguität vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert vor. Seine zentrale These lautet, dass es im Verlauf der Frühen Neuzeit zu einer "signifikanten Reduktion von Ambiguitätstoleranz" gekommen sei. (13, 25)
Diese Grundannahme wird anhand des bestehenden Forschungsstandes in sieben Hauptkapiteln überprüft. Im ersten Kapitel skizziert Thiessen Thema, Fragestellung, Begrifflichkeit und Methodik seiner Untersuchung. In einem praxeologischen Ansatz geht er davon aus, dass Werte und Normen "durch das menschliche Handeln selbst hervorgebracht, verfestigt, verworfen und verändert werden." (21) Werte besäßen aufgrund ihres handlungsoffenen Charakters breite Zustimmung und Integrationskraft. Normen hingegen konkretisierten Werte auf Handlungsebene und entsprächen den sozialen Erwartungen der historischen Akteure. (27-29) Seine Leitfrage lautet, wie Akteure im Alltag mit Normenkonkurrenz umgingen. (24) Ambiguität habe stets nach einer kontextabhängigen Interpretation verlangt und so die grundsätzliche Akzeptanz konkurrierender Verhaltensweisen ermöglicht. (24f.) Von einer einseitigen Normdurchsetzung könne nicht gesprochen werden.
Das zweite Hauptkapitel fragt nach der Bewährung und Veränderung von Normen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. (44) In diesem Zeitraum sei die "normative Zentrierung" christlicher Werte nicht auf Vereinheitlichung hinausgelaufen, sondern habe "Widersprüche, Unklarheiten, Abgrenzungen und Deutungskämpfe" erzeugt. (48) Dementsprechend sei die Frühe Neuzeit nicht nur ein Zeitalter der Vereindeutigung, sondern auch der Ambiguität gewesen. (49) Diese Ambiguität schlage sich in drei Normensystemen nieder: den religiösen, den gemeinwohlorientieren und den sozialen Normen. Per se seien alle Normen religiöse Normen gewesen. (49f.) Das Gewissen sei in der Frühen Neuzeit zur "individuellen Instanz der Selbstprüfung" geworden, das eine "Disambiguierung des eigenen Verhaltens" verlangt habe. (63f.) Während politische Herrschaft religiös legitimiert wurde, hätten sich daneben gemeinwohlorientierte Normen etabliert, die sich nicht auf göttlichen Ursprung zurückführen ließen. (70, 90) Insbesondere die gemeinwohlorientierte Funktion der Obrigkeit als Patron und Schiedsrichter habe stabilisierend auf das politische System gewirkt. (88) Daran schließen soziale Normen an, die sich um zeitgenössische Ehrvorstellungen gruppierten. Der Wert der Ehre habe zu normativen Handlungsweisen verpflichtet, die eine Grundlage für soziale und wirtschaftliche Erfolgschancen innerhalb der ständischen Gesellschaft gebildet hätten. (96-101, 117)
Während es im religiösen, gemeinwohlorientierten und sozialen Normensystem zu einer normativen Zentrierung gekommen sei, widmen sich die folgenden drei Kapitel dem flexiblen Umgang historischer Akteure mit Ambiguität. Das geschieht zunächst im Spannungsfeld von Frömmigkeit und säkularer Welt. Schichtübergreifend habe Religiosität in der Frühen Neuzeit drei Motive umfasst: die Suche nach dem Seelenheil, die Hoffnung auf Beistand für Alltagsprobleme und die seelische Erbauung. (121) Diese religiösen Interessen seien vielfach durch soziale Bedürfnisse modifiziert worden. So habe die Kirchenzucht beispielsweise den vorehelichen Geschlechtsverkehr sanktioniert, während er gesellschaftlich akzeptiert worden sei, wenn er in die wirtschaftliche Versorgungseinheit einer Ehe mündete. (123f.) Religiöse Normen hätten deshalb keinesfalls eins zu eins die gesellschaftliche Wirklichkeit abgebildet. Sie hätten vielmehr in einer tief religiösen Weltordnung "attraktive Rollenmodelle" zur Verfügung gestellt. Ein Akteur aber konnte und musste kontextabhängig verschiedenen Rollenerwartungen entsprechen. Daher habe die normative Zentrierung nur eine kontextabhängige und zeitlich begrenzte Eindeutigkeit hervorgerufen. Nicht Eindeutigkeit, sondern eine ganz besondere Ambiguitätstoleranz sei Kennzeichen der auf dem sozialen Feld erfolgreich agierenden historischen Akteure gewesen. Religiöse Normen hätten sich nur dort dauerhaft behaupten können, wo sie im Einklang mit gemeinwohlorientierten und sozialen Normen gestanden hätten. (161)
Das zeige sich auch auf dem Gebiet politischer Normen von Fürstengesellschaft und Staatenwelt, die Gegenstand des 4. Kapitels sind. Politische Herrschaft habe sich stets nur dann dauerhaft durchsetzen können, wenn sie an allgemein akzeptierte Normen anknüpfen konnte. (167) Politische und soziale Normen seien insbesondere in der Fürstengesellschaft aufs Engste miteinander verknüpft gewesen und hätten dort "eine ambige soziopolitische Ordnung" hervorgebracht. (177) Ausgehend vom Charakter der Fürstengesellschaft habe Normenkonvergenz die europäische Staatenwelt geformt und miteinander verbunden. (204)
Das führt im 5. Kapitel zur Ebene politischer Akteure im Dienst von Staaten und Fürsten. Im politischen Handlungsfeld sei es zu einer Spannung zwischen sozialen und gemeinwohlorientierten Normen gekommen. (217, 220) Auch hier hätten Akteure wie im religiösen Feld kontextabhängig zwischen unterschiedlichen Normen changiert. (259)
Der Umgang mit normativer Uneindeutigkeit ist deshalb Gegenstand des 6. Kapitels. Thiessen charakterisiert Normenkonkurrenz als ein Kennzeichen der Frühen Neuzeit. (319) Daraus folge, dass Ambiguitätstoleranz ein "kulturelles Grundmuster frühneuzeitlicher Gesellschaften" gebildet habe. (271) Nur einflussreiche Spezialisten hätten das Leitbild der Unzweideutigkeit gegenüber einer ambiguitätstoleranten Bevölkerungsmehrheit vertreten. (271) Thiessen spricht deshalb von einer "Spannung zwischen gelebter Ambiguität und dem Ideal der Eindeutigkeit". (320)
In der Sattelzeit habe dieses Spannungsverhältnis einen grundlegenden Wandel erfahren, dem sich das 7. Kapitel widmet. Im 19. Jahrhundert hätten die Normen der Frühen Neuzeit fortbestanden, aber an Selbstverständlichkeit verloren. (360) Der aufklärerische Optimismus habe jedoch viel stärker als die Konfessionalisierung eine alltägliche, ethische Perfektionierung des Individuums propagiert. (361f.) Neue Rollenmuster seien von den Akteuren durch die beschleunigte Ausdifferenzierung von Handlungsfeldern angeeignet worden. (362-364) Das Festhalten am Leitbild der Eindeutigkeit bezeichnet Thiessen jedoch als "Lebenslüge der Moderne". (359) Ihr stellt er die Frühe Neuzeit als Zeitalter der Ambiguität entgegen, in der Akteure leichter zwischen unterschiedlichen Normsystemen hätten lavieren können. (364)
Thiessens Verdienst ist es, auf der Grundlage einer gelungenen Synthese der aktuellen Frühneuzeitforschung eine große und überzeugende Erzählung der Geschichte des Umgangs mit Ambiguität vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert vorzulegen. Dabei gelingt es ihm, den Gegensatz zwischen Normen, Denk- und Lebenswirklichkeiten historischer Akteure durch einen innovativen, praxeologischen und alltagshistorischen Ansatz zu überwinden. Auf diese Weise ist seine Untersuchung methodisch wegweisend für die Geschichtswissenschaft insgesamt. Die Lektüre des "Zeitalters der Ambiguität" wird deshalb dem Leser nachdrücklich empfohlen. Es handelt sich zweifellos um eine der wichtigsten historischen Publikationen der letzten Jahre.
Anmerkung:
[1] Beispielsweise Andreas Pietsch / Barbara Stollberg-Rilinger (Hgg.): Konfessionelle Ambiguität: Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2013.
Christian Mühling