Veronika Helfert: Frauen, wacht auf! . Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich, 1916-1924 (= L'Homme Schriften; Bd. 28), Göttingen: V&R unipress 2021, 399 S., ISBN 978-3-8471-1184-9 , EUR 80,00
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Was passiert, wenn Frauen und ihre Erfahrungen konsequent ins Zentrum der revolutionären Ereignisse um 1918/19 in Österreich - gemeinhin tradiert als "Revolution der Männer" - gerückt werden? Dieser forschungsleitenden Frage stellt sich Veronika Helfert in der hier besprochenen Studie über Revolution und Rätebewegung in Österreich. Ursprünglich als Dissertation verfasst, reiht sich das Buch in die zahlreichen neueren Forschungsarbeiten zur deutschen und europäischen Gewaltgeschichte im frühen 20. Jahrhundert ein. Beiträge zur Geschlechtergeschichte sind darunter nicht neu, die Untersuchung von Veronika Helfert ist jedoch die erste übergreifende geschlechterhistorische Darstellung der politischen Umbruchsphase in Österreich um 1918/19.
Dabei richtet die Autorin den Blick nicht nur auf die bisher wenig erzählten Geschichten von Sozialistinnen, Kommunistinnen, Sozialdemokratinnen und anderen Revolutionärinnen. Vielmehr bietet sie eine maßgebliche Neuperspektivierung von Revolution und Rätebewegung an. Mithilfe geschlechter-, kultur- und emotionsgeschichtlicher Ansätze zeigt Veronika Helfert einleuchtend, wie männliche Narrative die Ausgestaltung und die unmittelbare Tradierung der revolutionären Ereignisse prägten und Eingang in die Historiografie fanden. Politisches Handeln von Frauen wurde als unpolitisch deklariert und blieb weitestgehend unsichtbar - nicht nur in der zeitgenössischen Wahrnehmung, sondern auch in der Geschichtsschreibung.
Vor diesem Hintergrund schlägt Veronika Helfert vor, die ab 1916 einsetzenden Streiks, Unruhen und Hungerproteste bereits als Teil des revolutionären Geschehens in Österreich zu verstehen. Frauen waren daran maßgeblich beteiligt und hatten sie zuweilen initiiert. Es zeige sich, so die Autorin, darin eine weibliche Form der politischen Einflussnahme. Um dies sichtbar zu machen, erweitert sie die gängigen historiografischen Phasenmodelle zur österreichischen Revolution ab November 1918, um eine weitere - "proto-revolutionäre" - Phase zwischen 1916 und Oktober 1918. Dabei geht es ihr auch ausdrücklich darum, nicht nur politische Machtverhältnisse und Ereignisgeschichte abzubilden. Diese Überlegungen strukturieren das Buch, das sich in einen ersten Teil zur "proto-revolutionären Phase" und in einen zweiten Teil zu Revolution und Rätebewegung zwischen November 1918 und 1924 gliedert. In einem separaten Kapitel zu Beginn erläutert Veronika Helfert zudem den methodischen und konzeptionellen Rahmen ihrer Forschungsarbeit.
In diesem Kapitel nimmt die Autorin bereits einige ihrer Thesen vorweg. Mit Bezug auf geschlechtertheoretische Ansätze formuliert sie eine "Kritik am androzentristischen Revolutionsmodell" (56), auf die sie ihre kritische Quellenauswertung stützt. In diesem Zusammenhang analysiert sie auch eingehend, wie sich die Depolitisierung weiblichen Protestverhaltens vollzog. Zu diesem Zweck bildet Veronika Helfert Kategorien in Anlehnung an Norbert Elias: "Die Revolutionärin vs. die friedfertige Frau" (66) sowie "der revolutionäre Arbeiter" (69) erscheinen ihr als zeitgenössisch wirkmächtige "Figurationen des Politischen" (65). Ferner problematisiert sie "das Narrativ einer Soldatenrevolution" (74) und konstatiert ein vorherrschendes "Erwerbsarbeitsparadigma" (61), das den Ausschluss von Frauen aus Politik, Parteien und Arbeiterräten befördert habe. Zum Schluss stellt die Autorin die mitunter misogynen Untertöne heraus, die zeitgenössische Berichte über die "revoltierenden Massen" durchziehen. Auch Kommunistinnen und Kommunisten wie Henriette Roland-Holst oder Hans von Hentig beschrieben diese als gefährlich, unkontrolliert und nicht zuletzt als weiblich.
Im ersten Teil finden sich drei Unterkapitel zu Hungerprotesten und Streikbewegungen sowie zu politischen Netzwerken und Aktionen von Frauen in Friedens- und Jugendbewegungen. Veronika Helfert stellt die vielerorts stattfindenden Hungerproteste in einen Zusammenhang mit den zahlreichen Streikbewegungen und sozialen Unruhen, die nicht nur in Österreich unter großer Beteiligung von Frauen die zweite Kriegshälfte prägten. Als europäisches Phänomen finden sie sich ebenso im Deutschen Reich wie in Russland; auch dort beteiligten sich Frauen maßgeblich als Protestierende und Streikende. Die Autorin sieht darin Aushandlungsprozesse im Ringen um staatsbürgerliche Rechte, wobei den vom Wahlrecht ausgeschlossenen Frauen eine besondere Rolle zukam. Meist ohne Partei- und Gewerkschaftsanbindung artikulierten sie ihre politischen Forderungen, ihren Ärger und ihre Nöte sowohl auf den Straßen und Marktplätzen als auch in den Fabriken. In der zeitgenössischen Wahrnehmung sowie in der Geschichtsschreibung galten diese meist unorganisierten Protestformen als unpolitisch. Die Autorin versucht, diese Depolitisierung im Zusammenhang mit den wirkmächtigen Geschlechterdiskursen und emotionshistorischen Ansätzen zu erklären. Dabei greift sie auf ihre eingangs erläuterten Konzepte zurück.
Im zweiten Teil nähert sich Veronika Helfert der Revolution, der Gründung und der Frühgeschichte der Ersten Republik aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Dabei fallen besonders ihre analytischen Fragestellungen auf. So untersucht sie das gewaltsame Revolutionsgeschehen im November 1918 sowie in der ersten Jahreshälfte von 1919 vorrangig unter der Prämisse, in welcher Relation Geschlecht und Gewalt zueinander standen. Ausgehend von der Figuration des "revolutionären Arbeiters", die in unverkennbarer Nähe zu militärischer Männlichkeit stehe, fragt die Autorin nach weiblicher Militanz. Auffällig ist, dass sich nur wenige Frauen an den revolutionären Geschehnissen von 1918/19 aktiv beteiligten. Zeitgenössische und autobiografische Zeugnisse österreichischer Kommunistinnen und Sozialistinnen wie Elfriede Eisler-Friedländer oder Hilde Wertheim zeigen jedoch, dass Frauen durchaus für den gewaltsamen Kampf eintraten. Auch sie wollten um jeden Preis eine Räterepublik in Österreich errichten. In linken Frauenkreisen wurde das Thema Gewalt breit diskutiert: Unter welchen Bedingungen war ihr Einsatz ein legitimes Mittel? Und in welcher Form sollten sich Frauen beteiligen? Dabei handelte es sich um transnational geführte Debatten, in denen "Sowjet-Frauen" eine Vorbildrolle zukam.
In einem weiteren Unterkapitel rücken Rätebewegung und Arbeiterräte in den Fokus. Veronika Helfert vertritt dabei die These, dass ein spezifisches Konzept von citizenship verhandelt wurde, das strukturell mit Erwerbsarbeit verbunden war und Frauen tendenziell benachteiligte. Die Wahlen im Kontext der Arbeiterräte waren entlang unterschiedlicher Arbeitergruppen strukturiert, wobei Hausfrauen und in der Landwirtschaft mithelfende weibliche Familienangehörige - und damit typische Formen weiblicher (Erwerbs-)Arbeit - zunächst nicht repräsentiert waren. Dies verdeutlicht die Autorin anhand exemplarischer Untersuchungen der Ortsarbeiterratswahlen in Wien und Kärnten 1922, wobei Frauen sowohl als Wählerinnen als auch als Kandidatinnen nur unzureichend vertreten waren. Ähnliches zeichnet sich bei näherer Betrachtung der Selbstverwaltung durch die Arbeiterräte ab, die in einem weiteren Teilkapitel untersucht werden. Frauen blieben mehrheitlich von den öffentlichen Tätigkeiten der neueingerichteten Versorgungsverwaltungen ausgeschlossen, was Veronika Helfert nicht zuletzt darauf zurückführt, dass sie als Teil des revolutionären Kampfes galten.
Dies stand unter anderem im Widerspruch zu der Fülle an frauenpolitischen Konzepten und Utopien, die österreichische Kommunistinnen, Sozialistinnen und Sozialdemokratinnen vertraten und die im letzten Unterkapitel dargestellt werden. Die Frauen forderten politische Gleichberechtigung und weitgehende Rechte auf dem Gebiet von Ehe und Familie, Sexualität und Erwerbsarbeit. Impulsgebend dafür waren unbestritten die russische Revolutionsbewegung und die Frauenpolitik in den ersten Jahren der Sowjetunion. Die Forderungen der Österreicherinnen sollten sich zumindest teilweise erfüllen: Das allgemeine und gleiche Frauenwahlrecht trat 1919 in Kraft.
Insgesamt gelingt es Veronika Helfert in bemerkenswerter Weise, die Akteurinnen im Umfeld von Revolution und Rätebewegung in Österreich sichtbar zu machen. Zudem vermag sie zu erklären, weshalb Frauen trotz ihrer großen Beteiligung an sozialen Protesten und Streiks seit 1916 nur in geringer Anzahl in der Rätebewegung vertreten waren. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Geschlechter- und Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert, wobei sie transnationale Verflechtungen nicht unberücksichtigt lässt. Bei der Analyse der vielfältigen Ausschlussmechanismen gegenüber Frauen arbeitet die Autorin jedoch häufig mit theoriegestützten Erklärungsansätzen, die sie bereits im Kapitel zu Konzept und Methoden erläutert hat. Die konkreten Geschlechter-Geschichten und die sozialen Praktiken im Kontext von Revolution und Rätebewegung kommen daher stellenweise zu kurz. Dies ist aber vermutlich nicht zuletzt auf die unzureichende Materiallage zurückzuführen, wie die Autorin betont; einschlägige Überrestquellen und Selbstzeugnisse von Frauen gibt es wenige. Vor diesem Hintergrund liefert Veronika Helfert eine ausgesprochen lesenswerte und kluge Studie auf außerordentlich hohem analytischen Niveau.
Elisabeth Perzl