Rezension über:

Petra Heinicker: Kolpingsarbeit in der SBZ und DDR 1945-1990 (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen; Bd. 139), Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2020, XIV + 390 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-70286-9, EUR 89,00
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Rezension von:
Wolfgang Tischner
Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Sankt Augustin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Tischner: Rezension von: Petra Heinicker: Kolpingsarbeit in der SBZ und DDR 1945-1990, Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 12 [15.12.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/12/34097.html


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Petra Heinicker: Kolpingsarbeit in der SBZ und DDR 1945-1990

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Die vorliegende Arbeit macht schon im Titel eines der Probleme kirchlicher Arbeit in der DDR deutlich: "Kolpingsarbeit" bewegte sich in einer rechtlichen Grauzone, war weder erlaubt noch explizit verboten, sondern je nach politischer Großwetterlage mehr oder weniger geduldet. Ein "Kolpingwerk" wie in der Bundesrepublik konnte somit in der DDR schon organisatorisch nicht existieren, sondern es mussten neue Formen für die kirchliche Arbeit gefunden werden. Dies galt für fast alle Vorfeldorganisationen des Katholizismus, die in der Regel in der Weimarer Republik in den Regionen, die später zum kommunistischen Machtbereich gehören sollten, ein deutliches Wachstum erlebt hatten. In diesen Diasporagebieten wurden Organisationsstrukturen des katholischen Milieus, die im Rheinland oder Bayern schon lange bestanden, eingerichtet. In Sachsen, Thüringen, den preußischen Provinzen Sachsen und Brandenburg entstanden katholische Schulen, die verschiedenen Institutionen der Caritasarbeit wie Krankenhäuser und natürlich auch Kolpingsfamilien. Organisationsform war in der Regel ein eingetragener Verein. In der NS-Zeit wurde das katholische Vereinswesen, anders als es sich die Kirche erhoffte, nicht durch das Reichskonkordat geschützt. Es kam zu einer organisatorischen Konzentration, bei der viele dieser Institutionen, um sich dem Zugriff des Regimes zu entziehen, unter das Dach der kirchlichen Struktur flüchteten. Diese "Verkirchlichung" (Heinz Hürten) veränderte die Struktur des deutschen Katholizismus, teilweise wurde im Episkopat die Zerschlagung der in Deutschland traditionell starken Laienbewegung nicht ungern gesehen.

Mit dem Zusammenbruch 1945 wurde in der Sowjetischen Besatzungszone in vielerlei Hinsicht dieser Prozess von den neuen Machthabern fortgesetzt. Die vorliegende Arbeit beschreibt die Formen, die die Kolpingsarbeit in der DDR noch annehmen konnte. Meistens verloren die Kolpingsvereine ihre Immobilien, die nur manchmal in kirchliches Eigentum, etwa das der örtlichen Pfarreien, umgewandelt werden konnten. An einen gelungenen Überblick über die Entwicklung der Forschung zum ostdeutschen Katholizismus schließt sich eine Darstellung der Quellenlage an. Materialien aus 18 ostdeutschen kirchlichen und staatlichen Archiven wurden herangezogen; das Thema wird damit erschöpfend abgedeckt. In vier inhaltlichen Kapiteln wird anschließend die Entwicklung analysiert. Die zum Verständnis unerlässliche Vorgeschichte in der ostdeutschen Diaspora in Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Diktatur wird im ersten Kapitel adäquat beschrieben. Der zweite Abschnitt gibt, im Wesentlichen chronologisch gegliedert, einen Überblick über die verschiedenen Phasen der Kolpingsarbeit in SBZ und DDR. Die Zäsuren entsprechen denen der allgemeinen Kirchengeschichte: Mit der Gleichschaltung der Ost-CDU spätestens 1950 fehlte ein politischer Ansprechpartner, der Mauerbau führte zu einer politischen Abstinenz, die der Berliner Kardinal Bengsch prägte, mit Beginn der Ära Honecker und der deutsch-deutschen Entspannungspolitik wurden die kirchlichen Freiräume wieder minimal größer, allerdings nagte die voranschreitende Säkularisierung auch am ansonsten erstaunlich stabilen ostdeutschen Katholizismus. Besonders gelungen ist die differenzierte Analyse der komplexen Binnenstruktur des ostdeutschen Katholizismus, bei der die besondere Bedeutung Berlins deutlich wird. In der geteilten Stadt waren inoffizielle Kontakte vor und nach dem Mauerbau viel einfacher zu realisieren als sonst in der DDR. Bis Ende der 1950er Jahre lösten sich die Kolpingsfamilien in der DDR notgedrungen vom westdeutschen Kolpingwerk und wurden Teil der ostdeutschen Diözesanstrukturen. Schon in der NS-Zeit hatte berufliche Bildungsarbeit kaum noch stattfinden können, dies setzte sich in der DDR fort. Freilich fühlte sich das westdeutsche Kolpingwerk weiter den ostdeutschen Kolpingsfamilien verbunden und leistete vielfältige Hilfestellungen.

Im dritten Kapitel wird das gewandelte Selbstverständnis der ostdeutschen Kolpingsfamilien beschrieben, die abseits ihres traditionellen inhaltlichen Zuschnitts eine neue Rolle als ein Refugium des Laienkatholizismus fanden, der sonst in der DDR oft vor allem im Bereich der Akademikerseelsorge stattfinden konnte. Anders als dort scheinen sich aber in den Kolpingsfamilien keine besonderen Spannungen zur kirchlichen Hierarchie aufgebaut zu haben. Erst in den 1980er Jahren, als die Schwäche des SED-Regimes mehr Freiheiten ermöglichte, belebte sich die Laienarbeit in der katholischen Kirche. Freilich gab es während der friedlichen Revolution 1989 kein besonderes Engagement seitens der Kolpingsfamilien, was die Forschungsergebnisse zum ostdeutschen Katholizismus insgesamt bestätigt.

Es schließt sich eine ausführliche Untersuchung der Arbeit des MfS in Bezug auf die Kolpingsarbeit an. Seitens der Staatssicherheit wurden insbesondere in den 1950er Jahren die Kolpingsfamilien in der Diözese Berlin verfolgt, was in zwei Prozessen mit fingierten Anklagen und langjährigen Verurteilungen kulminierte. Die Stasi konzentrierte sich auch in der Folge auf Berlin und konnte über einen als Diözesansenior tätigen IM dort Einblick in die Kolpingsarbeit gewinnen, ohne dass sich jedoch nennenswert erfolgreiche Einflussnahmen nachweisen lassen.

Hervorzuheben ist ein Anhang, der in elf Grafiken quantitative Informationen zur Entwicklung der Kolpingsfamilien in den verschiedenen Jurisdiktionsbezirken gibt. Solche Informationen sind Mangelware und hätten sicherlich noch eine gesonderte Auswertung gelohnt; sie zeigen, dass es teilweise noch in den 1980er Jahren zu einem Wachstum kam.

Insgesamt handelt es sich um eine gelungene Analyse einer Sparte des ostdeutschen Katholizismus. So gelingt es der Autorin, in einer quellendichten Darstellung exemplarisch einen Bereich der katholischen Gegenkultur zum SED-Staat im Verlauf der Existenz der DDR zu untersuchen. Sie erweitert unser Verständnis von den gesellschaftlichen Freiräumen, die sich im Schatten der Kirchen bewahren ließen, und beschreibt plastisch deren Entwicklung im Verlauf der vierzigjährigen Geschichte der DDR.

Wolfgang Tischner