Martin Conway: Western Europe's Democratic Age. 1945-1968, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2020, XIV + 357 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-0-691-20348-5, USD 35,00
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Dieses Buch war überfällig. Es wird die Diskussion über die Nachkriegsentwicklung in den westeuropäischen Ländern deutlich beeinflussen und dürfte die aktuellen, bisweilen recht vordergründigen Debatten über die Demokratie von unzulässigen Verallgemeinerungen befreien. Martin Conway arbeitet in seinem dicht argumentierenden, breit in der Forschung verankerten Werk wichtige Merkmale der Zeit bis 1970 heraus, deren Grundlagen zwar allesamt nicht unbekannt, aber bisher nicht im Zusammenhang analysiert worden sind. Die Interdependenz der verschiedenen nationalen Geschichten wird auf zwei übergeordneten Ebenen sichtbar. Da ist zum einen die vielfache Verflechtung des politischen Geschehens; Conway moniert mit Recht, dass die Demokratiegeschichte seit 1945 nach wie vor ganz überwiegend aus der nationalen Perspektive dargestellt wird. Und da ist zum anderen die Verortung der Nachkriegsgeschichte im zeitlichen Zusammenhang von 1930 bis 1960/70. Die "Stunde Null" sei ein Mythos. Das Vermächtnis der Jahre seit 1930 schaffe überhaupt erst die Möglichkeit, das Geschehen nach 1945 angemessen zu verstehen. Dem ist mit allem Nachdruck zuzustimmen.
Conway beginnt seine Studie mit einer Konferenz des Congress for Cultural Freedom (CCF) 1960 in Berlin, auf der Raymond Aron, der französische Frontmann des internationalen CCF-Netzwerks, die demokratische Freiheit beschwor. Diese Freiheit richtete sich gegen die Ambitionen des Kommunismus, aus dem eigenen Machtanspruch die politische und gesellschaftliche Ordnung Europas zu gestalten. Die CCF-Kongresse fanden seit 1950 regelmäßig statt. Der CCF war eine Schlüsselinstitution der amerikanischen Kulturdiplomatie mit dem Ziel, den Kommunismus und die ideellen Hinterlassenschaften des Faschismus zu bekämpfen und die westliche Freiheit als transatlantisches Ordnungskonzept zu etablieren. Damit ist der amerikanische Einfluss auf die westeuropäische Demokratiegeschichte angedeutet, der in diesem Buch allerdings nur verhalten thematisiert wird. Die Tatsache, dass in Westeuropa die ehemaligen Feindstaaten einen gemeinsamen Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft finden mussten, weil der Marshallplan ihnen keine andere Wahl ließ, bleibt ausgeblendet. Conway übergeht den politischen und wirtschaftlichen Druck der USA auf Westeuropa, ohne den die gemeinsame, homogene Entwicklung im EWG-Europa, dem "Europa der Sechs" (Italien, Frankreich, Benelux, Bundesrepublik), kaum möglich gewesen wäre. Er übergeht damit auch den Sachverhalt, dass die demokratische Neuordnung Westeuropas nach 1945 eine Reaktion auf die bitteren Erfahrungen nach 1919 war. Die Fehler von damals wollten die Amerikaner nicht noch einmal machen. Sie waren entschlossen, die amerikanisch definierte Nachkriegsordnung fest in Europa zu verankern. "Western Europe's Democratic Age" wurde in beträchtlichem Ausmaß von amerikanischen Einflüssen geprägt.
Statt der amerikanischen Dimension arbeitet Conway die kommunistische Tradition heraus und korrigiert die Marginalisierung des Kommunismus in der Historiographie des Kalten Krieges. Abgesehen von Deutschland, wo der Kommunismus schon seit den 1920er Jahren vor allem aus Moskau gesteuert wurde, waren die Einflüsse der Komintern in den 1930er Jahren von enormer Anziehungskraft auf die Linke in Westeuropa. Der Versuch, mit der Volksfront aus Kommunisten und Sozialisten den Weg in eine Zukunft jenseits des Faschismus zu gehen, schlug in Frankreich das linke Bürgertum in seinen Bann und motivierte 1936 die Spanienkämpfer aus allen Ländern des Westens zum Kampf für eine bessere, humane Welt. 1945 versuchte der Kommunismus daran anzuknüpfen und erlebte noch einmal eine große Stunde, als europaweit zwischen bürgerlichen Kräften und der kommunistischen Linken darum gerungen wurde, wem die Definitionsmacht über die Demokratie gehörte. Aus der Marginalisierung des Kommunismus im Kalten Krieg ergab sich die Trennung zwischen der politischen Linken und der intellektuellen Linken, die für die Entwicklung hin zu den 1970er Jahren wichtig wurde.
Conway zeigt, dass die Demokratiegründungen in der Hand der Regierungen lagen, nicht der Gesellschaften. Die Stabilisierung der Demokratie war auf die Institutionen des Staats gerichtet. Die Protagonisten gehörten zur Mittelklasse und zu den mittleren Altersgruppen. Sie waren männlich, bürgerlich und antikommunistisch. Sie identifizierten die Demokratie mit dem Staat. Demokratie war oberhalb der Gesellschaft verortet. Sie integrierte den politischen Lobbyismus nichtstaatlicher Organisationen wie der katholischen Kirche und der Gewerkschaften. Daraus resultierte die Stabilität der westeuropäischen Demokratie in den 1950er Jahren. Der Preis war hoch, denn in diesen Strukturen gab es keinen Platz für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit; sie wurde erst möglich im Pluralismus einer offenen Gesellschaft, die sich selbst als demokratisch verstand. Aus ähnlichen Gründen spielte auch die Entwicklung in den kolonialen Gebieten zunächst keine Rolle. Seit 1960 beeinflusste dann die Dekolonisierung in allen westeuropäischen Ländern das staatliche Handeln. Nicht zufällig wurde das Bonner Entwicklungshilfe-Ministerium 1961 gegründet. Da Deutschland schon seit 1918 keine Kolonien mehr besaß, war die Bundesrepublik zwar nicht in den politischen Prozess der Dekolonisierung eingebunden, doch erforderte das übergreifende Konzept der westeuropäischen Demokratien zu einer befreienden Modernisierung der Länder in der sogenannten Dritten Welt sehr bald Deutschlands Beteiligung.
Besonderes Gewicht räumt Conway dem Katholizismus und der christlichen Demokratie ein. Die christlichen Parteien in Italien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Westdeutschland waren politische Stützpfeiler der Institutionendemokratie. Gleiches galt auch für die sozialdemokratischen Parteien und die Gewerkschaften. Diese Konfiguration - staatliche Institutionensicherung und deren politisch-parlamentarische Stabilisierung durch Christ- und Sozialdemokratie - bestimmte die Nachkriegsdemokratie. Sie prägte die Gesellschaften, weil hier eine Demokratie der formalen Freiheit und Gleichheit geschaffen wurde, während die Demokratie der persönlichen Freiheit und des Individualismus hintanzustehen hatte. Daraus ging die intellektuelle Unruhe seit 1960 hervor, bis es am Ende des Jahrzehnts zur Explosion der multiplen Ansprüche auf Mitbestimmung kam. Frauenemanzipation, studentische Opposition und die Demokratiebewegung in der katholischen Kirche sind nur einige der Aspekte, die näher ausgeführt werden.
Vor diesem Hintergrund entfaltet Conway abschließend die These, dass der Protest gegen die Staats- und Institutionendemokratie ein innerdemokratischer Protest war. Damit unterschied er sich vom antidemokratischen Protest der 1920er Jahre, der die Demokratie zerstören wollte. Die zu Beginn des Buchs dargelegten Argumente über die Dominanz der Mittelschichten beim Aufbau der Demokratie werden hier wieder aufgegriffen und mit dem Hinweis verbunden, dass infolge dieser Dominanz die Arbeiterschaft nur geringe Möglichkeiten hatte, sich als demokratische Kraft zu entfalten. Auch in dieser Hinsicht ließ die Öffnung hin zur pluralistischen Partizipation eine neue, veränderte Form von Demokratie entstehen. Die Demokratie wurde gesellschaftlich fluid und passte nicht mehr mit den Institutionen des Staats aus den 1950er Jahren zusammen. Abwehrende Reaktionen der Institutionendemokratie waren die Folge; sie stimulierten mehr und mehr die Dynamik der Sozialen Bewegungen. "1968" war nicht mehr und nicht weniger als ein Bestandteil dieses längerfristigen Transformationsgeschehens.
Ein Ausblick auf den Populismus in den Demokratien der Gegenwart beschließt dieses wichtige und außergewöhnlich anregende Buch.
Anselm Doering-Manteuffel