Craig Griffiths: The Ambivalence of Gay Liberation. Male Homosexual Politics in 1970s West Germany, Oxford: Oxford University Press 2021, xiv + 238 S., ISBN 978-0-19-886896-5, GBP 65,00
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Susanne zur Nieden (Hg.): Homosexualität und Staatsräson. Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900-1945, Frankfurt/M.: Campus 2005
Florian Mildenberger: "... in der Richtung der Homosexualität verdorben.". Psychiater, Kriminalspychologen und Gerichtsmediziner über männliche Homosexualität 1850-1970, Hamburg: Männerschwarm Verlag 2002
Lev Mordechai Thoma / Sven Limbeck (Hgg.): "Die sünde, der sich der tiuvel schamet in der helle". Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Ostfildern: Thorbecke 2009
Martin Lücke: Männlichkeit in Unordnung. Homosexualität und männliche Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik, Frankfurt/M.: Campus 2008
Florian Mildenberger / Jennifer Evans / Rüdiger Lautmann / Jakob Pastötter (Hgg.): Was ist Homosexualität? Forschungsgeschichte, gesellschaftliche Entwicklungen und Perspektiven, Hamburg: Männerschwarm Verlag 2014
Mark Edward Ruff: The Battle for the Catholic Past in Germany, 1945-1980, Cambridge: Cambridge University Press 2017
John Pollard: The Papacy in the Age of Totalitarianism, 1914-1958, Oxford: Oxford University Press 2014
Jonathan Gorry: Cold War Christians and the Spectre of Nuclear Deterrence, 1945-1959, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013
Wie grundlegend sich gesellschaftliche Verhältnisse innerhalb von nur einem Jahrzehnt ändern können, belegt ein Blick auf die Situation von homosexuellen Männern in der Bundesrepublik: Mussten sie bis Ende der 1960er Jahre noch fürchten, bei jeder Art von gleichgeschlechtlicher Handlung verhaftet und verurteilt zu werden, genossen sie Ende der 1970er Jahre weitgehende Freiheit. Sie fand nicht zuletzt Ausdruck in einer vielseitigen schwulen "Szene", in der homosexuelle Männer, zumindest in Mittel- und Großstädten, sich in der Öffentlichkeit treffen und ihre Zuneigung zeigen konnten. Bekanntlich nahm die grundstürzende Entwicklung ihren Ausgang in der Novellierung des berüchtigten Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches durch die Große Koalition 1969. Die Geschichte ist bereits öfters erzählt worden, meist eingebettet in eine große Meistererzählung, der zufolge Politik und Gesellschaft in Westdeutschland in den 1960er und 1970er Jahren eine fundamentale Liberalisierung durchlebten. [1] Craig Griffiths stellt sich mit seinem Buch, das auf einer Qualifikationsarbeit aus dem Jahr 2015 basiert, gegen eine solche lineare Erfolgsgeschichte, indem er stattdessen, wie der Titel anzeigt, die Ambivalenzen der "schwulen Befreiung" in den 1970er Jahren herausarbeiten möchte. Mit der Dekonstruktion des großen Liberalisierungsnarrativs ordnet sich Griffiths in eine Reihe jüngerer Historikerinnen und Historiker ein, zu denen unter anderem Benno Gammerl zählt, der in seiner jüngst erschienen Studie " anders fühlen" die Geschichte schwulen und lesbischen Lebens in der Bundesrepublik als ambivalente Emotionsgeschichte erzählt hat. [2]
Griffiths begrenzt seine Untersuchung im Gegensatz zu Gammerl auf den engen Zeitraum der "langen 1970er Jahre" sowie auf den Gegenstand homosexueller Männer. Mag das Letztere auch bedauerlich erscheinen, gibt der Autor gute Gründe dafür, darunter die verschiedene Art der (strafrechtlichen) (Ent-)Kriminalisierung sowie unterschiedliche Formen lesbischer und schwuler Kultur und Vergesellschaftung. Darüber hinaus blendet Griffiths in seiner Geschichte Frauen nicht völlig aus, sondern lässt sie unter anderem zu Wort kommen, wenn es um das Verhältnis zwischen Homosexuellen- und Frauenbewegung geht. Im Zentrum der Studie steht freilich "[g]ay men's ambivalence about themselves, their desires and the society in which they lived" (2). Um sie zu untersuchen stützt sich Griffiths auf die Prämissen von Eve Kosofsky Sedgwick, die das Verhältnis von Hetero- und Homosexualität nicht als einen Akt der Unterdrückung verstanden wissen wollte, sondern als eine Beziehung, die auf einer irrationalen Koexistenz beruht. [3] Darauf aufbauend stellt Griffiths das Konzept der Ambivalenz in das Zentrum seiner Untersuchung. Darunter versteht er in expliziter Ablehnung einer sozialen Lesart, wie sie etwa Zygmunt Bauman vorgelegt hat, den psychischen Konflikt, dem sich der Einzelne in seiner gesellschaftlichen Existenz ausgesetzt sieht. Für schwule Männer in der Bundesrepublik der 1970er Jahre identifiziert Griffiths mit den Gegensätzen von Stolz/Scham, Hoffnung/Angst und normal/verschieden drei zentrale Spannungsfelder, denen er in seiner Studie folgt.
Griffiths widmet sich seinem Gegenstand in fünf thematischen Kapiteln, die ihrerseits in Teilkapitel untergliedert sind. In einem ersten Kapitel beschreibt er in der gebotenen Kürze die politischen und gesellschaftlichen Prozesse, die der Gesetzesnovelle von 1969 vorausgingen, sowie mit dem Aufkommen einer kommerziellen Presse und dem Aufblühen der schwulen "Szene" deren unmittelbare Folgen. Im zweiten Kapitel stehen die Debatten zwischen homosexuellen Männern, die sich in traditioneller Weise als "homophil" verstanden, und solchen, die in den 1970er Jahren begannen, sich als "schwul" zu bezeichnen. Der letztgenannte Schritt war Teil eines nach 1969 wachsenden öffentlichen Engagements von Schwulen für ihre Sache, die Griffiths in einem dritten Schritt in die größeren Zusammenhänge einer sogenannten alternativen Linken einordnet, unter der er unter anderem die Rudimente der Studierenden- sowie die Frauenbewegung subsumiert. Es waren diese Kontexte, in denen die Verfolgung von Homosexuellen durch das nationalsozialistische Regime wiederentdeckt wurde, die dem Kampf um demokratische Rechte eine erinnerungspolitische Stütze gab, wie Griffiths im vierten Kapitel zeigt. Dem schließt sich ein letzter Abschnitt an, in dem er am Beispiel von öffentlichen Kontroversen in den 1980er Jahren wie dem sogenannten Tuntenstreit den unterschiedlichen Haltungen von homosexuellen Männern in der Frage nachgeht, in welcher Form die eigene Sexualität in politischen und öffentlichen Diskussionen dargestellt werden kann und soll.
Die große Stärke der vorliegenden Arbeit ist es, dass sie den Leser äußerst kenntnisreich und in sehr verständlicher Sprache durch die ambivalente Geschichte des Weges hin zu sexueller Gleichberechtigung führt. Griffiths hat sich intensiv mit den Akteuren und Organisationen westdeutscher Homosexueller, ihren Positionen und Entwicklungen in den "langen 1970er Jahren" befasst; eine Tatsache, die vielleicht von dem ursprünglichen Plan herrühren mag, eine Geschichte der Homosexuellen-Gruppierungen als "Neuer Sozialer Bewegung" zu verfassen. Der Autor präsentiert sein umfangreiches Wissen vor dem Hintergrund aktueller Fachdebatten und schafft es dadurch tatsächlich, die Geschichte der homosexuellen "Befreiung" als eine Gesellschaftsgeschichte im besten Sinne zu erzählen. Sie erweitert unser Wissen nicht nur zum Liberalisierungsprozess, sondern etwa auch zum Wandel der Medienlandschaft, der Expansion der Konsumgesellschaft sowie zu Fragen generationeller Konflikte. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die wiederholte Einbettung der Narration in inter- und transnationale Zusammenhänge, so wenn der Autor danach fragt, wie es eigentlich um die Beziehung West-Berliner Homosexueller zur Ost-Berliner "Szene" stand. Griffiths macht um diese Einschübe kein methodisches Aufheben, bringt sie aber immer zum passenden Moment.
Die Schwäche des Buches liegt nach Meinung des Rezensenten dagegen im zentralen Konzept der "Ambivalenz", gerade in der gewählten psychischen Variante. Zwar betont Griffiths an mehreren Stellen in pathetischem Ton: "a deep-seated ambivalence over these issues ran through the very heart of groups and individuals themselves" (so etwa 163), dennoch gelingt es ihm nur begrenzt, diese in der einzelnen Person veranlagten Widersprüchlichkeiten anschaulich zu machen und zu belegen. Das liegt an zwei Dingen: Zum einen ordnet er - allen eigenen Warnungen vor einer zu einfachen ontologischen Zuordnung von Menschen und ihren Ansichten zu sozialen und kulturellen Gruppierungen zum Trotz - die verschiedenen Akteure recht eindeutig als "gay left" und "conservative" ein. Das Verlangen nach Kategorienbildung ist zwar verständlich, eine höhere Sensibilität für den Einzelfall wäre hier allerdings wünschenswert gewesen. Zum anderen wird die Darstellung der individuellen Ambivalenz durch die Auswahl der Quellen eingeengt. Griffiths bezieht sich in erster Linie auf Aufsätze in gedruckten Zeitungen und Zeitschriften und nur zu einem kleinen Teil auf persönliche Dokumente und Interviews. Der Zugriff über publiziertes Material aber macht es schwierig, Widersprüche in der Sichtweise einzelner aufzudecken. Dagegen hat Benno Gammerl in seiner schon erwähnten Arbeit nachdrücklich gezeigt, wie dies gerade mithilfe von Interviews möglich ist.
Diese Kritik tut dem Wert des vorliegenden Buches keinerlei Abbruch. Es erweist sich als ein lesenswertes, detailreiches und äußerst reflektiertes Werk, das in dreifacher Hinsicht einen wichtigen Beitrag zu aktuellen geschichtswissenschaftlichen Debatten leistet: Es löst vorhandene Dichotomien in der bundesdeutschen Sexualitäts- und Geschlechtergeschichte auf, es gibt kenntnisreich Einblick in Aspekte der Neuen Sozialen Bewegungen, die bisher häufig blinde Flecken waren, und es ersetzt eine einseitige bundesrepublikanische Fortschrittsgeschichte durch eine Geschichte der Brüche, der Ungleichzeitigkeiten und Gegenläufigkeiten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Ulrich Herbert: Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte - eine Skizze, in: Ders. (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, 7-49.
[2] Vgl. Benno Gammerl: anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte, München 2021.
[3] Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick: Epistemology of the Closet, Berkeley / Los Angeles / London 1990.
Daniel Gerster