Zoltán Boldizsár Simon: History in Times of Unprecedented Change. A Theory for the 21st Century, London 2019 (paperback 2021).
Eine fulminante geschichtstheoretische Abhandlung: Nachdem Hartog, Gumbrecht und andere den Advent des Präsentismus verkündet haben, behauptet Simon, dass unser Geschichtsbild immer noch vom Wandel geprägt ist, allerdings von einer neuen, nämlich präzedenzlosen Form des Wandels. Dabei spielen technologische und ökologische Faktoren eine zentrale Rolle und lassen das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übergreifende geschichtliche Subjekt verschwinden. Trotz der begrifflichen Flughöhe ein anregendes Buch nicht nur für Freunde der Geschichtstheorie, sondern auch für alle, die an einer Zeitdiagnose interessiert sind.
Rita Felski: Hooked. Art and Attachment, Chicago 2020.
Nachdem Felski die 'critique' in ihre Grenzen gewiesen hat, versucht sie nun zu bestimmen, wie Kunst uns berührt und bezaubert. Inspiriert von Latour, untersucht sie 'identification', 'attunement' und, an letzter Stelle, 'interpretation' als Modi der Rezeption. Eine Herausforderung für alle, die als Hermeneutikerinnen des Verdachts immer noch nach dem Gold der Bedeutung schürfen, und ein Parforceritt, der ohne Umwege von Joni Mitchell zu Zadie Smith führt. Auch wenn man sich fragt, ob man Literatur, Musik und Bildende Kunst so leicht unter einen Hut bekommt, ist die Monographie eine stilistische Meisterleistung.
Remo Bodei: Das Leben der Dinge. Übersetzt von Daniel Creutz, Berlin 2020.
Welche Bedeutung haben Dinge in unserem Leben? Während viele Dingtheoretiker immer arkaner denken und schreiben, geht der italienische Philosoph, der 2019 starb, dieser Frage mit exemplarischer Klarheit nach. Er diskutiert prägnante Beispiele aus der Literatur und entwickelt seine eigene Position in Auseinandersetzung mit Hegel, Husserl, Freud und anderen, ohne in Gelehrsamkeit zu ersticken. Warum gibt es nicht mehr Philosophie, die auf diese Weise Leichtigkeit mit Tiefe zu verbinden weiß?
Andreas Reckwitz / Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?, Frankfurt 2021.
Für alle, die Rosas Resonanz und Reckwitz' Die Gesellschaft der Singularitäten verpasst haben, die Möglichkeit, die beiden kulturtheoretisch zur Zeit wohl wirkmächtigsten Ansätze der deutschen Soziologie kennenzulernen: Rosas Versuch, Romantik und Kritische Theorie miteinander zu vermitteln und mit der Resonanz einen positiven Gegenbegriff zur Entfremdung zu prägen vs Reckwitz' Praxistheorie, welche die Logik der Singularisierung in ganz unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens nachzeichnet. Beide Autoren stellen zuerst ihre Ansätze prägnant vor und führen dann ein Gespräch, das die Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten herausarbeitet.
Emmanuel Carrère: Yoga, Paris 2020.
Noch mehr als in früheren Büchern setzt sich Carrère in diesem Buch über Genregrenzen hinweg und reflektiert scheinbar disparate Themen im Spiegel seiner eigenen Erfahrungen: Yoga, islamistischer Terror, Flüchtlingskrise, DepressionÂ… Durch Anschuldigungen von Carrères Ex-Frau aus dem Rennen um den Prix Goncourt geworfen, eröffnet Yoga ein Kaleidoskop, in dessen Zentrum Carrères bipolares Ich steht. Man fragt sich einmal mehr: Wie kommt es, dass man der Stimme eines Autoren verfällt, der sich selbst als eitlen und ziemlich unangenehmen Zeitgenossen darstellt?