Jörg Echternkamp (Hg.): Militär und Gesellschaft in Ost- und Westdeutschland 1970-1990 (= Deutsch-deutsche Militärgeschichte; Bd. 3), Berlin: Ch. Links Verlag 2021, XII + 648 S., eine Kt., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-96289-119-0, EUR 55,00
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Manfred Hettling / Jörg Echternkamp (Hgg.): Gefallenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung, München: Oldenbourg 2013
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Erstaunlich lange war die vergleichende Analyse einer Militärgeschichte in Ost- und Westdeutschland ein Forschungsdesiderat. Die ambitionierte Reihe "Deutsch-deutsche Militärgeschichte" hat hier vor Kurzem das Eis gebrochen [1]. Mit dem nun vorliegenden dritten Band wird erstmals das Verhältnis von Militär und Gesellschaft in beiden deutschen Staaten aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet und einer empirisch-kritischen Analyse unterzogen. Dabei unterscheidet sich der von Jörg Echternkamp im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) herausgegebene Sammelband sichtbar von vergleichbaren Projekten, die in der reinen Zusammenfassung wissenschaftlicher Tagungen allzu oft disparat wirken. Das mag sicher mit der profunden Fachkompetenz der Autoren zu tun haben, allesamt Historiker oder Theologen am Potsdamer ZMSBw. Es zeigt sich aber auch an der methodischen Stringenz.
Die Leitfragen, die Jörg Echternkamp selbst in seiner konzisen Einleitung formuliert, sind einfach und ambitioniert zugleich: Wo liegt der historische Ort des Militärischen in der jüngsten deutschen Geschichte und wie lässt sich moderne Militärgeschichte für die kultur- und gesellschaftsgeschichtlich orientierte Zeitgeschichte nutzen? Diese sehr offene Fragestellung wird formal und inhaltlich überzeugend fokussiert. Die zeitliche Begrenzung auf die 1970er und 1980er Jahre ist klug gewählt, nicht nur wegen des grundlegenden gesellschaftlichen Wertewandels in dieser Zeit und den zunehmenden Diskursen über Frieden und Sicherheit im Zuge der Nachrüstungsdebatten. Sie ist auch zwingend geboten, weil die sozial- und kulturgeschichtlich orientierte Grundlagenforschung, zumal in deutsch-deutscher Perspektive, in dem hier untersuchten Kontext immer noch in ihren Anfängen steckt.
Das hierzu genutzte Methodenwerkzeug verbindet Bewährtes und Neues. Weil die mangelnde Systemanalogie zwischen bundesdeutscher Demokratie und DDR-Diktatur vergleichsgeschichtlich angelegte Studien erschwert, greifen die Autoren auf das vielfach bewährte Modell Christoph Kleßmanns, einer "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte" beider deutscher Staaten zurück. Die einzelnen Untersuchungen des Sammelbandes verharren nicht in den geschlossenen Räumen der Kasernen, sondern nehmen vor allem die gesellschaftspolitischen Bühnen mit ihren sehr unterschiedlichen Öffentlichkeiten in Ost und West in den Blick. Zudem folgt das Konzept einem inter- und transnationalen Zugriff. Im Austausch von Ideen, der Begegnung von Menschen, der Berührung von Institutionen und natürlich der wechselseitigen Rezeption wird so eine vielschichtige Transfergeschichte geschrieben. Auch die thematische Gliederung ist überzeugend, denn erstmals werden so unterschiedliche Bereiche der deutsch-deutschen Militärgeschichte wie Streitkräfte, Parteien, Medien, Gewerkschaften, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Kirchen in ihren wechselseitigen Beziehungen untersucht.
Im ersten und mit Abstand größten Abschnitt untersucht Echternkamp die politischen Akteure in Bundesrepublik und DDR und ihre auf das Militär bezogenen Positionen. Dabei werden die Konzepte der westdeutschen Parteien im Unterschied zur SED-Diktatur deutlich, die Frage der Selbst- und Fremdwahrnehmung in der Öffentlichkeitsarbeit, die bislang in der Forschung wenig beachtete Rolle der Gewerkschaften und des Deutschen Bundeswehrverbandes sowie die wirkmächtigen Identitäts- und Deutungsräume, wenn es um Militärgeschichte, Tradition und Militärsoziologie geht. Spannend wäre es hier gewesen, die Beobachtungen und Deutungen mit Sönke Neitzels "Deutschen Kriegern" zu vergleichen, allein schon wegen der vielfachen inhaltlichen Berührungen [2].
Dorothee Hochstetter verweist mit ihrer überzeugenden Analyse der Verteidigungsausschüsse von Bundestag und Volkskammer deutlich auf die systembedingten Asymmetrien. Im Unterschied zum mächtigen westdeutschen Verteidigungsausschuss versuchte der Ausschuss für Nationale Verteidigung der Volkskammer vor allem die Strukturen des Westens zu imitieren und eine demokratische Mitbestimmung vorzutäuschen. Die Grenzen einer vergleichenden Analyse sind hier vielleicht am sichtbarsten.
Auf einen im Vergleich zur Gesamtdarstellung eher kurz gearteten Abschnitt von Echternkamp und Rüdiger Wenzke zur Friedensbewegung in Ost und West folgen zwei ebenfalls instruktive Darstellungen zur Rolle der Volkskirchen in beiden deutschen Staaten und ihre Verortung in den friedensethischen Debatten. Angelika Dörfler-Dierken nimmt die evangelischen Kirchen im geteilten Deutschland in den Blick und erkennt in deren "innerer Pluriformität" einen Motor in den sicherheitspolitischen und friedensethischen Debatten - und zwar auf beiden Seiten. Trotz der staatspolitischen Trennung verstand man sich als "mental eine Kirche" (488), agierte auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs hochpolitisch und nahm großen Einfluss auf die Friedensdiskurse. Obgleich das gemeinsame Interesse an der Sicherung des Friedens, und hier insbesondere die brisante Frage, ob dies mit oder ohne Waffen geschehen sollte, eine einigende Klammer bildete, spricht wenig für eine Parallel-, aber viel für eine Verflechtungsgeschichte. Allein die völlig unterschiedliche Rolle der Kirchen im Militär, insbesondere die institutionelle Verankerung einer Militärseelsorge in der Bundeswehr, unterstreicht die Asymmetrie.
In weiten Teilen ähnlich, aber eben auch von deutlichen Unterschieden geprägt, beschreibt Markus Thurau die Rolle der katholischen Kirche und "ihrer" Friedensbewegung in beiden deutschen Staaten. Die spezifische Diasporasituation in der DDR, das Fehlen einer katholischen Verbandsarbeit und der Mangel an einer Gegen- oder Ersatzöffentlichkeit durch katholische Laien zeigt, wie eng hier der Spielraum war. Während die katholische Militärseelsorge im Westen in weiten Teilen mit der Politik und damit der Bundeswehr kooperierte, konstatiert Thurau im Osten ein "Modell der Konfrontation" (551), das am Ende dazu führte, dass offizielle katholische Stellungnahmen in der DDR deutlich zurückhaltender ausfielen.
Angesichts des breiten thematischen Ansatzes ist es wohlfeil noch mehr zu fordern. Doch gerade, weil der militärpolitischen Öffentlichkeit mit ihrer wechselseitigen Rezeption und Perzeption so viel Raum geschenkt wird, hätte eine konsequentere Nutzung der Film- und Fernsehmedien noch einigen Erkenntnisgewinn versprochen. Gleiches gilt für die Wahrnehmung von Großmanövern und die Proteste gegen Fluglärm: eine Debatte, die im Westen teilweise hoch emotionalisiert geführt wurde und die sich im Osten allenfalls in der Rubrik privater Eingaben und Beschwerden niederschlug.
Mit diesem Sammelband hat die neuere deutsch-deutsche Militärgeschichte einen entscheidenden Schritt nach vorne getan. Methodisch überzeugend, quellengesättigt und thematisch breit aufgestellt können die Autoren schlüssig herausarbeiten, dass die vordergründigen Gemeinsamkeiten des Militärischen signifikant hinter die tief wurzelnden Systemunterschiede zurücktreten. Der vorliegende Band präsentiert beispielhaft, wie wertvoll eine in dieser Form aufgestellte Militär- und Sozialgeschichte für die jüngere deutsche Zeitgeschichte, aber auch für eine Kulturgeschichte der Gewalt sein kann.
Anmerkungen:
[1] Dokumente zur deutschen Militärgeschichte 1945-1990. Bundesrepublik und DDR im Ost-West-Konflikt, hg. von Christoph Nübel, Berlin 2019; Thorsten Loch: Deutsche Generale 1945-1990. Profession - Karriere - Herkunft, Berlin 2021.
[2] Sönke Neitzel: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik - eine Militärgeschichte, Berlin 2020, hier v. a. die Kapitel zur Bundeswehr und NVA.
Matthias Rogg