Daniel Mahla: Orthodox Judaism and the Politics of Religion. From Prewar Europe to the State of Israel, Cambridge: Cambridge University Press 2020, 318 S., ISBN 978-1-108-48151-9, GBP 75,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Daniel Mahla beginnt und schließt seine überarbeitete Dissertationsschrift (Columbia University, 2014) zu den zwei bedeutendsten orthodoxen Gruppierungen Israels des 20. und 21. Jahrhundert - der 1902 etablierten zionistisch-religiösen Mizrachi-Bewegung und der zehn Jahre später konstituierten antizionistischen Agudat Yisrael - mit zwei Ereignissen, die aufzeigen, wie sich die zwei Bewegungen seit den 1950er Jahren in gesellschaftspolitischen Fragen derart weit voneinander entfernt hatten, dass, wie Mahla aufzeigt, zwei unterschiedliche "Orthodoxien" und damit zwei distinkte soziokulturelle Milieus entstanden (6).
Ganz zu Beginn der Einleitung verweist Mahla auf eine Auseinandersetzung zwischen national-religiösen israelischen Parlamentariern und Vertretern der nicht-zionistischen Orthodoxie über die Frage der Militärpflicht für Frauen. Während die zionistisch-religiösen Vertreter den Zivildienst als Kompromiss akzeptieren konnten, lehnte die nicht-zionistische Orthodoxie jeglichen Dienst für junge Frauen ab. Der Versuch eines Schulterschlusses scheiterte, und die ultraorthodoxen Parlamentarier zogen sich aus der Knesset zurück, worauf es zu Massenkundgebungen in den ultraorthodoxen Wohnquartieren kam. Abgeschlossen wird die Studie mit der Darstellung einer erneuten Auseinandersetzung zwischen der nicht-zionistischen und der zionistischen Orthodoxie über die Militärpflicht. Knapp 50 Jahre später, im März 2014, blockierten Hunderttausende ultraorthodoxer Männer die Zufahrt zu Jerusalem und legten den Verkehr lahm. Sie demonstrierten gegen den von Vertretern der wichtigsten national-religiösen Partei des Landes initiierten politischen Vorstoß, die Befreiung von der Dienstpflicht für junge, ultraorthodoxe Männer aufzuheben. Wie es zu diesem Bruch zwischen den zwei größten religiösen Fraktionen in Israel kam, steht im Zentrum des vorliegenden Werkes.
Mahla untersucht in sechs chronologisch angeordneten Kapiteln die Rivalitäten und partei-politischen Spaltungen, aber auch gemeinsamen Kämpfe zwischen den zwei orthodoxen Gruppierungen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die beide für sich beanspruchten, das religiöse Judentum als Ganzes in Abgrenzung zu säkularen Bewegungen zu vertreten, zuerst in Osteuropa (Kapitel 1-3), dann in Israel (Kapitel 4-6). Der Blick ist dabei weniger auf ideologische Schismen als vielmehr auf soziokulturelle und soziopolitische Entwicklungen gelegt.
Im ersten Teil zeigt Mahla, wie sich die zwei Bewegungen als Reaktion auf gesellschaftliche, kulturelle und politische Veränderungen im Osteuropa des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert formierten, jedoch zu ganz unterschiedlichen Antworten auf die Probleme und Entwicklungen der Zeit - Migration, Kollaps der traditionellen Gemeindestrukturen und aufstrebender Zionismus - gelangten. Die Mizrachi-Bewegung entstand als religiöse Fraktion der zionistischen Bewegung und blieb dieser trotz großer Differenzen strukturell verbunden. Ihre Vertreter strebten politische Verantwortung und Mitbestimmung im Rahmen des zionistischen Projekts an. Die Agudat Achim auf der anderen Seite distanzierte sich von politischem und gesellschaftlichem Aktivismus, beharrte auf einem traditionellen Verständnis von (rabbinischer) Autorität und befürwortete die Beibehaltung von althergebrachten religiösen und gesellschaftlichen Strukturen.
Die Spannungen zwischen religiöser Autorität und politischem Aktivismus, die Mahla als Hauptursache des Konfliktes zwischen den zwei Gruppierungen sieht (37), setzten sich auch im Mandatsgebiet Palästina und in den ersten Jahrzehnten des Staates Israel fort. Zwar kam es bei gewissen politischen Fragen, insbesondere wenn es um die Aufnahme religiöser Prinzipien in staatliche Strukturen ging, zum Schulterschluss zwischen den Parteien. Die Tendenz, so zeigt der Autor im zweiten Teil des Buches, ging jedoch in Richtung einer irreparablen Spaltung der Orthodoxie. Sowohl politisch als auch gesellschaftlich formierten sich zwei Milieus, die in unterschiedlichen Wohngegenden lebten, eine andere Umgangssprache pflegten und eigene Schulsysteme etablierten.
Diese Entwicklungen und die Spaltung wirken, wie im Epilog, der zeitlich in die Gegenwart reicht, gezeigt wird, bis heute in die israelische Gesellschaft. Zahlreiche Abkommen aus den Gründungsjahren Israels zum Verhältnis zwischen Staat und Religion sind bis heute in Kraft und Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Der Autor macht damit die anhaltende Signifikanz der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts formierenden religiösen und gesellschaftlichen Differenzen in der Orthodoxie für den heutigen Staat Israel und seine politischen und gesellschaftlichen Institutionen deutlich.
Die Radikalisierung von religiösen Gruppierungen wurde bislang, so Mahla, meist im Kontrast zur nichtreligiösen und säkularisierten Umwelt dargestellt (19). Der Autor wählt für seine Studie jedoch den Zugang der Beziehungsgeschichte ("relational history", Seite 15) und kann so mit dem Fokus auf innerreligiöse Spannungen die Entwicklung von zwei religiösen Bewegungen zu zwei distinkten sozial-politischen Milieus aufzeigen.
Mit dem vorliegenden Buch ist dem Autor eine faszinierende, klar strukturierte und gut zu lesende Darstellung der gesellschaftspolitischen Geschichte der israelischen Orthodoxie gelungen, die den Bogen über ein Jahrhundert bis in die Zeitgeschichte schlägt. Das Buch zeigt in einer sonst seltenen Deutlichkeit, wie relevant historische Entwicklungen für die Gegenwart sein können, nicht ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass die Gegenwart nicht als eine lineare Fortsetzung der Vergangenheit verstanden werden darf. Komplementiert wird die Darstellung im Anhang mit Kurzbiografien der zentralen Akteur:innen. Da die Studie zu weiten Teilen auf Quellen, gedruckten wie auch ungedruckten, basiert, wäre für ein einfacheres Lesen die in englischsprachigen Verlagen leider kaum mehr gängigen Fußnoten anstelle der hier verwendeten Endnoten wünschenswert gewesen. Dies ist jedoch nur ein Wermutstropfen, der den Wert der ansonsten hervorragenden Arbeit keinesfalls schmälert.
Stefanie Mahrer