Rezension über:

Maria Bremer: Individuelle Mythologien. Kunst jenseits der Kritik, München: edition metzel 2019, 216 S., 96 Abb., ISBN 978-3-88960-189-6, EUR 24,00
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Rezension von:
Susanne Watzenboeck
Donau-Universität Krems
Redaktionelle Betreuung:
Christian Berger
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Watzenboeck: Rezension von: Maria Bremer: Individuelle Mythologien. Kunst jenseits der Kritik, München: edition metzel 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 3 [15.03.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/03/36869.html


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Maria Bremer: Individuelle Mythologien

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Individuelle Mythologien bieten seit der Kasseler documenta 5, in deren Rahmen Harald Szeemann als Generalsekretär unterschiedlichste künstlerische Positionen zum Thema "Befragungen der Realität" unter jenem Sammelbegriff vereinte, der Kunst- und Ausstellungsgeschichte Anlass und Motivation, über Subjektivität und Kollektivität, Wissenschaft und Mythos sowie Realitäten und Repräsentationsmodelle zu reflektieren. Maria Bremers Publikation nimmt - 50 Jahre nach der documenta 5 - die Individuellen Mythologien in den Blick, um deren Relation zur künstlerischen (Gesellschafts-)Kritik neu zu perspektivieren. Ein zentrales Moment bildet dabei die Sichtbarmachung einer neuen Form der Partikularisierung des Subjektes, die sich in den 1970er-Jahren ausbildete und die Felder der Kunst, der Kuration und der Kunstkritik gleichermaßen betraf. Folglich bietet Bremers Buch eine facettenreiche Analyse der Individuellen Mythologien, die sowohl künstlerische und kuratorische Praktiken als auch Historisierungsprozesse und Ausstellungsformate umfasst. Eine distanzierte Position wird hingegen gegenüber dualistisch angelegten Narrativen eingenommen, die den Diskurs über kritische und akritische Kunst in den Sozialwissenschaften sowie der Kunstgeschichte bisher prägten.

Die Autorin entfaltet ihre Argumentation in fünf Kapiteln, wobei das erste eine umfangreiche Einleitung in den Forschungsgegenstand sowie eine präzise historische Verortung desselbigen in relevante Diskurse von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart bietet. Die darauffolgende Untersuchung gliedert sich in zwei Hauptteile, die sich anhand von Kunstwerken (Vettor Pisani, Nancy Graves und Paul-Armand Gette) und Ausstellungen (documenta 5 und 6) entwickeln. Im ersten Teil steht vor allem die Befragung der künstlerischen Praxis im Hinblick auf damit verzahnten Subjektivitätsformen im Fokus. Nach einer Vorstellung der drei ausgewählten Positionen und deren subjektiven Rhetoriken findet das Kapitel zu einer sehr schlüssigen Strukturierung nach Selbsttechnik-Setzungen: Epigonale Selbstfindung und pathische Individuation, Anthropomorphismus und Apophänie [1], Synkretisches Sehen [2], sowie die Erfahrung der Natur als Kontinuum und Ort der Fusion von Selbstkonzeption, Naturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte. Innerhalb dieser Unterkapitel richtet die Autorin die Aufmerksamkeit sowohl auf Werk- als auch auf Kontextspezifika. Performative Abläufe, Bilderfolgen sowie skulpturale oder installative Anordnungen der Kunstwerke werden ebenso analysiert wie den Werken zugrundeliegende Raumkonzepte und Mediatisierungsprozesse. Durchläufig wird dabei die Frage nach Rezeptionsmustern unterschiedlicher Medien und ihrer Relation zur Produktionsästhetik spezifischer Werke gestellt - beispielsweise im Falle von Nancy Graves' Lunar Orbiter Series nach jenem der Malerei als "indexikalisches Zeichen künstlerischer Subjektivität" (47), bei Paul-Armand Gettes Fotoserie À travers le paysage nach dem Oszillieren zwischen den Objektivitätstopoi von Fotografie und Wissenschaft und der Verortung künstlerischer Subjektivität innerhalb dieser Systeme. Als charakteristisch für die Individuellen Mythologien interpretiert Bremer indes den Kunstwerken inhärente Rezeptionsvorgaben, die über konkrete Strategien wie pathische Adressierung, Affektintensivierung, Absorption oder die Einforderung spezieller Wahrnehmungstechniken kommuniziert werden.

Auf die Fallstudien folgt ein Zwischenfazit, in dem die Autorin im Besonderen auf Zitathaftigkeit und Anachronismen der behandelten Kunstwerke eingeht. "Kompositorische Singularität" [3], wie dies der Soziologe Andreas Reckwitz bezeichnet, tritt durch Praktiken des Referenzierens an die Stelle der mythischen Künstleridentität sowie den kunsthistorischen Werkbegriff betreffender Originalitäts- und Authentizitätsparadigmen. Jedoch wird an dieser Stelle eine klare Abgrenzung zu künstlerischen Methoden vorgenommen, die zwar ebenfalls auf Elemente aus Fremddisziplinen referieren, dies aber aus epistemischem oder kritischem Interesse tun. In den Individuellen Mythologien sieht Bremer das künstlerische Zitieren hingegen vor allem im Dienste der "Affektintensivierung" (111) - was durchaus auch die Problematik einer impliziten Fortschreibung von politischen, genderbezogenen oder (neo-) kolonialen Implikationen bergen könne. Zugleich schreibt die Autorin dem Referenzieren vor- oder nichtmoderner Vorlagen das Potential zu, eine Kontrapräsenz zu erzeugen, die integrierend wirkt. Eine ähnlich kontradiktorische Struktur identifiziert Bremer auch hinsichtlich der Zeitgenossenschaft der Werke, die sich durch den Einschluss anachronistischer Elemente noch schlagender gestalte. Ebenso werde durch den Einbezug von Immanenzfiguren und holistischen Selbst- und Weltbildern innerhalb einer Kunstrichtung, die man vordergründig als akritisch und subjektbezogen verstand, eine "neue Bewussteinsform" um "total connectedness" antizipiert (115).

Im zweiten Hauptkapitel wird anschließend die forma exhibendi der documenta 5 und 6 analysiert, sowie deren Rezeption und die darauf basierende ausstellungshistorische Kanonbildung. Den Auftakt des Kapitels bildet ein Einblick in die Konzeption der documenta 5. Szeemanns Nähe zur französischen Philosophie der Zeit bzw. seine Begriffsaneignung der Lacan'schen Individuellen Mythologien [4] wird in diesem Zusammenhang als geradezu programmatisch für diese Ausstellung sowie für die darauffolgende documenta 6-Sektion von Günter Metken interpretiert, der mit "Spurensicherung" sowie "Subjektiver Wissenschaft" ebenso mit Formeln operierte, die der Kriminalistik und der Anthropologie entliehen waren. Bremer zeigt deutlich auf, inwiefern Szeemanns und Metkens documenta-Beteiligungen nicht nur Singularisierungsbewegungen innerhalb der Kunst widerspiegelten, sondern ebenso in der kuratorischen Praxis. Ob Intensität oder mediale Reflexivität - die zentralen Qualitäten der ausgestellten Kunstwerke wurden von einem Kurator definiert, dessen Autorität und Auktorialität im Aufschwung begriffen waren und so die Struktur der Kunstszene grundlegend verwandelten. Spiegelbildlich zu den Künstlern der Individuellen Mythologien, die durch die Geste des Referenzierens eine selektierend-kuratierende Position einnahmen, wurde nun auch der Kurator zum Urheber eines Meta-Werkes. Ebenfalls befragt die Autorin die räumliche Ausstellungssituation im Hinblick auf ihre Relation mit dem kuratorischen Subjekt, dessen Biografie und Wertekanon, wodurch zahlreiche Fäden der vorangegangenen Argumentation geradezu plastisch zusammengeführt werden. Vor diesem Hintergrund wird am Ende des Kapitels die Frage nach Rezeptionsgefügen der Kunstkritik gestellt. Der Epilog bietet abschließend Einblicke in das "Nachleben" des Labels der Individuellen Mythologien. Anfangs noch in enger referenzieller Bindung zu Szeemann stehend, konnten diese im Fortgang durchaus unterschiedliche Positionen markieren - im Rahmen der anthropologisch/anachronischen Perspektivierung durch Metken, aber ebenso durch darauffolgende kuratorische oder publizistische Tätigkeiten sowie Selbstdeutungen und -archivierungen der Kuratoren. Diese produzierten laut Bremer "selbsthistorisierende" und "selbstinstitutionalisierende Effekte" (195), die das Kapitel präzise nachzeichnet und mit Archivmaterial untermauert.

Im Ergebnis gelingt es Bremer, mit ihrer Publikation eine Relektüre eines entscheidenden Abschnitts der künstlerischen Produktion der 1970er-Jahre vorzulegen, deren Stärke vor allem in ihrer multiperspektivischen Ausrichtung liegt. KünstlerInnenforschung, Ausstellungsgeschichte und Historiografie der Kunstgeschichte stecken das Feld der Untersuchung in klaren Konturen ab und lassen Leerstellen sowie unhinterfragt hegemonial gewordene Strukturen und Deutungen in der Forschung klar hervortreten. Die historiografische Verkürzung, die Subjektbezogenheit der Individuellen Mythologien kategorisch in Widerspruch zu einem gesellschaftskritischen Potential der Kunst zu lesen, stand in direktem Zusammenhang mit etwa zeitgleichen selbstreflexiven Tendenzen der Kunstgeschichte - der New Art History im angloamerikanischen Raum und der Kritischen Kunstgeschichte in Westdeutschland. Die damalige Aktualität von autor- und institutionskritischen Diskursen ließ dabei den Blick in vielen Fällen nicht weit genug schweifen - so kann Relationalität in der Werk- und Subjektsetzung zwar als Kontrast zum Schöpfermythos gelesen werden, sie ist jedoch Bremer zufolge ebenso als Singularisierungsmanöver und genealogische Einreihung zu verstehen. Gerade in dieser "Fabrizierung neuer Formen der Singularität" (16) verortet Bremer das Potential der Affirmation und der Transformation, und somit die Wirksamkeit der Kunst jenseits der Kritik auf gesellschaftliche Prozesse. Zahlreiche an dieses Fazit anschließende Fragestellungen scheinen auch im Hinblick auf zeitgenössische Kunstpositionen ungebrochen aktuell. Möchte man sich ihnen nähern, bietet Bremers Methodik einen idealen Ausgangspunkt, um die "Vielseitigkeit der Konstruktion von kultureller Bedeutung" (20) präzise erkennen und analysieren zu können.


Anmerkungen:

[1] Die Apophänie bezeichnet einen Perzeptionsmodus, in dem scheinbare Muster und Beziehungen in zufälligen Einzelheiten der Umwelt wahrgenommen werden.

[2] Synkretisches Sehen definiert eine spezielle Wahrnehmungstechnik, die sich in der Simultaneität oder der Oszillation zwischen zwei Polaritäten begründet.

[3] Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017, 108. Reckwitz fasst unter "kompositorischer Singularität" Identitäten, die aus diversen Bestandteilen permanent neu arrangiert und kuratiert werden.

[4] Szeemann arbeitete bereits in den 1960er-Jahren mit dem Terminus der Individuellen Mythologien. Bremer verweist auf die Wahrscheinlichkeit der Anknüpfung an den französischen Verwendungszusammenhang, der bis zu Béguin und Lacan in die 1950er-Jahre zurückreicht.

Susanne Watzenboeck