Z. Fareen Parvez: Politicizing Islam. The Islamic Revival in France and India (= Religion and Global Politics Series), Oxford: Oxford University Press 2017, XIV + 269 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-022524-7, GBP 59,00
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Die jahrzehntelange Marginalisierung der Muslime als gesellschaftliche Minderheit in Indien und Frankreich belegt deutlich, so die Kernaussauge der Autorin, dass sich beide säkularen Demokratien hinsichtlich ihrer Integrationspolitik in einer tiefen politisch-legitimatorischen Krise befinden. Und die konstante Zunahme von Hassverbrechen in beiden Gesellschaften gegen die muslimischen Gemeinden und ihrer Mitglieder stellt die Bedeutung und Wirksamkeit des Säkularismus ganz offensichtlich in Frage: In Frankreich kommt es jedes Jahr zu mehreren hundert "islamfeindlichen Handlungen", wobei sich hier die überwiegende Mehrheit aggressiver Übergriffe gegen Frauen richtet. In Indien ist die Gewalt gegen Muslime auf tragische Weise mittlerweile endemisch und gipfelte 2002 in dem Gujarat-Pogrom und einem Massaker an mehr als 1000 Muslimen.
Politicizing Islam präsentiert uns eine komparatistisch-ethnographische Studie über die verschiedenen islamischen Erweckungsbewegungen in Frankreich und Indien, welche die beiden größten muslimischen Minderheiten in Europa und Asien beheimaten. Seit 9/11 werden in beiden Ländern heftigste Kontroversen über die Rolle und Praktiken islamischer Koranschulen und ihrer Imame geführt, ob Islam und Demokratie, Frauen-und Menschenrechte überhaupt vereinbar sind, ob gläubigen Musliminnen das Tragen des Kopftuches an staatlichen Einrichtungen erlaubt sei, etc. - und, ein Klassiker innerhalb der öffentlichen Medienlandschaft, ob sich Muslime überhaupt noch in die westlichen Demokratien integrieren wollen.
Aber wie kam es eigentlich dazu, dass sich der Islam just zu dem Zeitpunkt zu einem Fixpunkt der gesellschaftlichen Debatten entwickelte und derart politisiert wurde, nachdem sich doch ein Großteil der muslimischen Gemeinden bereits seit den 1980er Jahren, aufgrund einer jahrzehntelangen fehlgeschlagenen Integrationspolitik, ins Privatleben zurückgezogen hatten und von einer Politisierung, geschweige denn gewaltbereiten Islamisierung, keine Spur zu erkennen war? Ganz zu schweigen davon, dass die große Mehrheit der Muslime Terror und Gewalt im Namen ihrer Religion entschieden zurückwiesen und sich dezidiert gegen die Terroranschläge von 9/11 aussprachen? Warum genau und seit wann wird eine Bewegung als 'kommunitär' (vor allem in Indien) oder als bedrohlich 'politischer Islam' bezeichnet (in Frankreich und Indien)? Warum wird die Geschlechterfrage nun bereits seit Jahrzehnten derart politisiert, obwohl immer mehr muslimische Frauen aktiv und erfolgreich für die Politisierung ihrer feministischen Agenden kämpfen, während gleichzeitig konservative und christlich-bürgerliche, rechts-nationale Parteien und Bewegungen weltweit für ein ultra-orthodoxes Familienbild kämpfen?
Die Autorin Fareen Parvez, Associate Professor an der University of Massachusetts, beantwortet diese relevanten Fragen in ihrer neuen Studie auf überzeugende Weise und will aufzeigen, dass es nicht nur der epochale Wendepunkt 9/11 war (dem sie in ihrer Studie natürlich eine enorme Bedeutung zumisst), welcher entscheidend zu einer kollektiven Diffamierung des Islam weltweit führte und die muslimischen Minderheiten in beiden hier analysierten Gesellschaften endgültig marginalisierte und an den Rand drängte; vielmehr kann sie überzeugend aufzeigen, wie der Begriff des sektiererischen islamistischen Fundamentalisten in beiden Ländern über Jahrzehnte hinweg und von oben herab zu einem identitätsstiftenden, politisch-gesellschaftlichen und intellektuellen Konstrukt voran getrieben und gezielt politisiert wurde.
Mit dem Niedergang der Sowjetunion als realexistierendem gesellschaftlichen Gegenentwurf und der gleichzeitig von Reagan und Thatcher propagierten Durchsetzung einer unbegrenzten neoliberalen Markt-und Gesellschaftspolitik setzten sich mit der Zeit andere Stimmen im öffentlich-gesellschaftlichen und intellektuellen Diskurs durch, die bis dahin tabu waren und die es nun darauf angelegten, nicht-christliche, bzw. nicht-hinduistische, arme und marginalisierte Gruppen gezielt zu kategorisieren, stigmatisieren und gesellschaftlich zu isolieren. 9/11, so Parvez, diente den konservativ-reaktionären und rechtsorientieren Eliten in Frankreich und Indien als ein ideales Argument, 'den Islam' ein für alle Mal als grundgewaltige Religion abzuschreiben, da dieser sich - ganz offensichtlich - noch im Mittelalter befinde und den Anschluss an die Moderne verpasst habe.
In ihren fünf thematischen Kapiteln, sowie einer ausgezeichneten Einführung (1-34) und Schlussbetrachtung (181-912) präsentiert Parvez gekonnt die vielschichtigen Bedingungen, unter denen 'der Islam' über Jahrzehnte hinweg einseitig von oben politisiert und stigmatisiert wurde und zeigt auf erschütternde Weise auf, wie sich dieser fortlaufende Prozesse auf das alltägliche Leben der verschiedenen muslimischen Minderheiten in Frankreich bis heute auswirkt. Die alltägliche Überwachung der Gläubigen und die Politisierung ihrer Religion bilden seitdem den Hintergrund des religiösen Alltags der Muslime in Frankreich und Indien. Wie aber mobilisieren sich die Muslime als verunglimpfte Minderheiten in beiden Gesellschaften, um ihre Situation vor Ort mittels unterschiedlicher islamischen Gruppierungen zu verbessern? Welche Art von Ansprüchen erheben sie gegen den säkularen Staat, der sie seit seiner Gründung als nicht-integrierbar und Bedrohung gegen die Nation und seiner demokratischen Ideale ins Visier genommen hat? Wer Antworten auf diese gesellschaftspolitischen so wichtigen Fragen such, der greife zu Parvez Studie, denn im Gegensatz zu dem, was die meiste Literatur und öffentliche Meinung über die verschiedenen islamischen Erneuerungsbewegungen verlauten lässt, so eines der Kernargumente der Studie, zielen diese Gruppen von Lyon bis Hyderabad eben nicht (!) auf die endgültige und radikale Islamisierung von Staat oder Gesellschaft ab. Stattdessen haben sich die hier vorgestellten muslimischen Gemeinden gerade in dem Moment, in dem der globale Krieg gegen den Terror die Politisierung des Islam weltweit auf den Höhepunkt getrieben hatte (und was für die Propagierung eines geschlossenen und gewaltsamen Jihāds aus der kollektiven Opferperspektive heraus ja ein idealer Zeitpunkt gewesen wäre), von Staat und Gesellschaft endgültig zurückgezogen und auf diese Weise dem Konzept des angeblich grundpolitischen Islam eine deutliche Abfuhr erteilt.
Parvez Studie präsentiert überzeugend das reziproke Verhältnis der unterschiedlichen muslimischen Gemeinden auf gesellschaftlich wichtigen Fragen wie sozialer Gerechtigkeit, deep democracy, muslimisch feministischer Agenden und dem allgegenwärtigen, globalen Krieg gegen den Terror und immer wieder appelliert die Autorin in diesem Zusammenhang eindringlich für ein neues Verhältnis zwischen Islam und Politik im säkular-demokratischen Kontext. Dies bedeutet, so der berechtige Wunsch der Autorin, dass der klassische Fragekatalog an 'den' Islam (warum er denn 'uns', also den Westen, so sehr hasse und wann und ob es denn nun endlich auch bei 'ihm' zu einer Reformation und Aufklärung wie in Europa kommen würde), durch eine viel umfassendere Debatte über die real-existierenden Möglichkeiten sozialer Transformationen und gesellschaftlicher Gerechtigkeit und Partizipation ersetzt werden müsse.
Politicizing Islam ist einerseits eine beeindruckende und innovative Milieustudie über die muslimische bürgerliche Oberschicht und Mittelklasse, als auch das in beiden Ländern zunehmend verarmende muslimische Präkariat. Ganze zehn Jahre investierte die motivierte Nachwuchswissenschaftlern in ihrer exzellent recherchierten Fallstudie und kann anhand überzeugender und immer wieder erschütternder Beispiele aufzeigen, wie in beiden Ländern Muslime aller sozialer Klassen gesellschaftlich und politisch alltäglich verunglimpft und diskriminiert werden, darauf jedoch völlig unterschiedlich reagieren und, noch einmal, sich eben keinesfalls geschlossen radikalisierend gruppieren, um für einen Jihād zu kämpfen; diese auf dem sogenannten heiligen Krieg ausgeübten Gewalttaten, so tragisch sie sind und vom Großteil der Muslime weltweit strikt verurteilt werden, bleiben also die absolute Ausnahme.
Für ihre Studie portraitierte und analysierte Parvez zahlreiche französische und indische Moscheegemeinden, Frauenhilfszentren, islamische Studienkreise und philanthropische Vereinigungen, um auf diese Weise einen eingehenden Blick auf die lokalen Muslime aller Schichten in Indien und Frankreich gewinnen und sie dem Leser eindringlich und empathisch präsentieren zu können. Viele der hier vorgestellten Frauen und Männer würden auf den ersten Blick in beiden Gesellschaften als sektiererische Fundamentalisten angesehen und abgestempelt werden, die sich einer Integration in die jeweiligen Mehrheitsländer verweigern würden. Aber eine solch oberflächliche Einschätzung versäumt es, so Parvez, die Komplexität der jeweils völlig unterschiedlichen, individuellen Beziehungen der Akteure zu ihrem gesellschaftlichem Umfeld, ihrem Glauben und ihren religiösen Texten differenziert zu betrachten. Die in der vorliegenden Studie untersuchten islamischen Erweckungsbewegungen und die politischen Formen, welche sie anwenden, um das sogenannte islamische Erwachen, welches ebenfalls ein höchst komplexer Begriff ist, könnten unterschiedlicher nicht sein und dürfen daher eben keinesfalls als fix-monolithische Agenden begriffen werden. Während manche Bewegungen sich beispielsweise primär auf religiöse und gesellschaftlich konservative Ziele konzentrieren und sich ins Private zurückziehen, richten andere all ihre Energie in den Kampf für sexuelle Gerechtigkeit, gesellschaftliche Transformation und die Politisierung feministischer Agenden aus.
Fareen Parvez bietet uns eine beeindruckende vergleichende Perspektive auf die vielfältigen und weitreichenden Prozesse, strukturellen Abläufe und Entwicklungen, wie die unterschiedlichen islamischen Bewegungen in so weit auseinander liegenden Städten wie Lyon und Hyderabad seit Jahrzehnten von oben herab gezielt politisiert, dämonisiert und gesellschaftlich marginalisiert wurden. Die Studie präsentiert dem interessierten Leser nicht nur eine politikwissenschaftliche Analyse der verschiedenen Formen des Säkularismus in Frankreich und Indien und den tiefgreifenden Auswirkungen dieser politischen Weltanschauung auf die muslimischen Minderheiten, sondern auch eine ausgezeichnete kultur-historische Interpretation der komplexen Unterschiede zwischen den Klassen- und Geschlechterverhältnissen der hier vorgestellten Gesellschaften.
Dank ihrer umfangreichen Analyse schafft es die Autorin in jedem Kapitel überzeugend, diese unterschiedlichen und vielfältigen Klassen-und Geschlechterdynamiken unter dem Deckmantel des Säkularismus und Kommunalismus aufzudecken und dem Leser die eigentlichen Motivationen und Ziele ihrer vorgestellten Protagonisten verständlich und einfühlsam zu präsentieren. Nach der Lektüre wird dem Leser deutlich, wie hoch komplex beispielsweise die Motivationen und Haltungen Burka-tragender französischer Muslima sind und wie diese tagtäglich darum bemüht sind, sich von den Klischees von Ohnmacht, häuslicher Unterwerfung und Entfremdung von der Mehrheitsgesellschaft zu befreien. Politicizing Islam ist eine ausgezeichnet geschriebene Studie und ein faszinierendes Korrektiv zu den vielen Missverständnissen und anwachsenden Vorurteilen gegenüber dem Islam und seinen Gläubigen, welche seit Jahrzehnten in Frankreich und Indien einer gezielten Instrumentalisierung und Politisierung ausgesetzt sind - ohne das ein Ende in Sicht sei. Die Studie ist also jedem Fachinteressierten, Journalisten und kritisch-interessierten Leser gleichermaßen und unbedingt zu empfehlen.
Tilmann Kulke