Rezension über:

Anna Greve: Koloniales Erbe in Museen. Kritische Weißseinsforschung in der praktischen Museumsarbeit (= Edition Museum; 42), Bielefeld: transcript 2019, 266 S., ISBN 978-3-8376-4931-4, EUR 24,99
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Rezension von:
Jonas Bens
Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Kerstin Schankweiler
Empfohlene Zitierweise:
Jonas Bens: Rezension von: Anna Greve: Koloniales Erbe in Museen. Kritische Weißseinsforschung in der praktischen Museumsarbeit, Bielefeld: transcript 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 4 [15.04.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/04/35005.html


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Anna Greve: Koloniales Erbe in Museen

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Deutsche Museen sind - im Wesentlichen - weiße Räume. Weiße Räume sind sie insofern, als dass nicht-weiße Perspektiven, Denk-, und Handlungsweisen, aber auch ganz konkret nicht-weiße Menschen in ihnen nach den Regeln weißer Normalisierungsmechanismen eingeordnet, gedeutet, bewertet, und nicht selten auch schlichtweg ausgelassen werden. Mehr und mehr Menschen wollen sich mit dieser weißen Dominanz musealer Räume nicht mehr abfinden und setzen sich zum Ziel, sie abzubauen. Aber wie genau muss sich Museumspraxis verändern, um das zu erreichen? Diese Frage legt sich Anna Greve in ihrem Buch "Koloniales Erbe in Museen" vor. Ihr Vorschlag ist, die Erkenntnisse der Kritischen Weißseinsforschung in die praktische Museumsarbeit einzubringen.

Bei der Kritischen Weißseinsforschung geht es im Kern darum, bei der Analyse des strukturellen Rassismus nicht vorwiegend auf diejenigen zu fokussieren, die strukturell marginalisiert werden (im Sprachgebrauch der Kritischen Weißseinsforschung: "Schwarze Menschen"), sondern den Blick darauf zu richten, welche Strukturen und Mechanismen überhaupt dazu führen, dass das Weiße strukturell normalisiert wird. Diesem analytischen Ansatz liegt die Prämisse zugrunde, dass struktureller Rassismus eben in erster Linie ein weißes Problem ist und dessen Überwindung ohne eine kritische Bearbeitung des Weißseins nicht gelingen kann. [1] Dieser analytischen Perspektive entsprechend, hat sich die Autorin in ihrem Text für die Schreibweise "weiß" und "Schwarz" entschieden, nicht zuletzt als typographischer Stolperstein, um den Leserinnen und Lesern durchgehend an das konzeptuelle Gepäck zu erinnern, dass diese Wörter mit sich führen. Solche und ähnliche Darstellungspraktiken werden auch zunehmend von Kuratorinnen und Kuratoren in der Museumspraxis eingesetzt.

Anna Greve, inzwischen Direktorin des Bremer Focke-Museums, dem Bremer Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte, hat sich in einem früheren Buch mit den Konsequenzen beschäftigt, die sich aus einer Perspektive der Kritischen Weißseinsforschung für die europäische Kunstgeschichte ergeben, insbesondere für die Theorie der Körperfarbe. [2] In "Koloniales Erbe in Museen" hat Greve nun eine Analyse von Beispielen aus der Praxis vorgelegt, wie sich die Kritische Weißseinsfoschung in die Museumsarbeit einbringen lässt, die sie während ihrer Arbeit als Referatsleiterin in der Kulturverwaltung des Landes Bremen begleitet hat.

Während andere Bücher mit einem ähnlichen Thema sich schwerpunktmäßig auf ethnographische Sammlungen in ethnologischen Museen konzentrieren, fächert Greve in ihrem Buch ein breites Spektrum von Museen auf und bezieht auch breit angelegte Dialogformate im Rahmen ihrer Erfahrung mit kommunal- und landespolitischer Kulturarbeit in die Analyse mit ein. Die Sammlungsobjekte, die Greve bespricht, reichen von syrischen Gläsern und Olifanten aus Kunstkammern des 16. und 17. Jahrhunderts, über von Bremer Seefahrern mitgebrachte "Exotica" im Bremer Heimatmuseum Schloss Schönebeck, bis hin zu ethnographischen Objekten in der Afrika-Sammlung des Bremer Übersee-Museums, einem Tropenhelm in der Dauerausstellung des Focke-Museums und dem Silberschatz der Schwarzen Häupter zu Riga in der Bremer Kunsthalle. Mit diesem breiten Ansatz macht Greve deutlich, dass nicht nur diejenigen Museen, die im traditionellen Verständnis europäischer Kulturpolitik für die "außereuropäischen Dinge" zuständig sind, nämlich die ethnologischen Museen, die in sie eingeschriebenen kolonialen Logiken hinterfragen müssen, sondern diese Fragen das Museum als Institution insgesamt betreffen.

Greves Buch erweist sich als eine wichtige Ressource für gute Ideen, wie Ausstellungskonzepte anders gestaltet werden können, um den in das Museum eingeschriebenen kolonialen Ungleichheiten jedenfalls partiell entgegen zu wirken. Ein erster Komplex der Vorschläge betrifft dabei die räumliche und inhaltliche Kontextualisierung der Objekte. Das Museum, so Greve mit Bezug auf das von Homi Bhabha entwickelte Konzept, müsse zum "Dritten Raum" werden - also zu einem Ort, in dem starre Identitäten von Kolonisatoren und Kolonisierten aufgebrochen und neu verhandelt werden können. [3] Im Kontext der Kunstkammer etwa schlägt Greve vor, Erwartungen des Exotischen und Ungewöhnlichen durch das Einbringen von ausführlicheren Kontextinformationen mit Audioguides und Apps zu brechen (69). In Bezug auf das Heimatmuseum beschreibt die Autorin den Mehrwert, die Exotica mit Alltagsobjekten räumlich zu kontrastieren und damit subalterne Erzählungen hörbar zu machen (86). Am Fall des Übersee-Museums Bremen analysiert Greve, wie dort zeitgenössische Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern aus Afrika und der afrikanischen Diaspora in die neue Afrika-Dauerausstellung integriert wurden (96).

Neben diesen Fragen, die das Arrangement der Objekte selbst betreffen, macht Greve vor allem ein neues Verständnis von kollaborativen Arbeitszusammenhängen in Museen stark. Herkommend von der Kritischen Weißseinsforschung stellt die Autorin dabei die gemeinsame Arbeit mit Schwarzen Akteurinnen und Akteuren in Bremen in den Mittelpunkt, um gemeinsam am Abbau strukturell rassistischer Strukturen zu arbeiten, die in kolonialen Logiken wurzeln. Greve zeigt, dass es nicht nur darum gehen kann, dass weiße Kuratorinnen und Kuratoren Objekte anders ausstellen, sondern dass echte Multiperspektivität nur gelingen kann, wenn Schwarze Menschen ihre Perspektiven aktiv einbringen können. Dabei muss das Museum aus seiner Komfortzone heraus und sich Formaten wie zum Beispiel den von Greve beschriebenen zivilgesellschaftlichen Dialogen öffnen, in denen nicht nur konkrete Ausstellungen, sondern grundlegende Arbeitsweisen des Museums zur Disposition stehen.

Sich wirklich und nicht nur scheinbar auf die Anforderungen nicht-weißer Akteure einzulassen, ist, wie Greve anschaulich macht, eine weit größere Herausforderung als lediglich Ausstellungspraktiken zu überdenken. "Koloniales Erbe in Museen" gibt hier viele wichtige Impulse. Weniger Raum hat in den von Greve analysierten Beispielen die Zusammenarbeit mit Menschen aus den oft ländlichen Regionen außerhalb Europas, aus denen viele der Sammlungsobjekte stammen. In Deutschland wird dies, wie Greve treffend analysiert, viel zu oft auf die Frage von Restitution reduziert. An einer Stelle bemerkt Greve, ihrer Beobachtung nach falle es den deutschen Museen leichter, mit Herkunftsgesellschaften über Rückgaben zu verhandeln, als mit Schwarzen Menschen in ihrer Nachbarschaft an Museumskonzeptionen zu arbeiten (191). So formuliert mag das stimmen - nämlich, wenn sich die Zusammenarbeit mit indigenen Gemeinschaften auf die Frage reduziert, was restituiert werden soll. Es ist allerdings ein noch größerer Schritt für das Museum zuzugeben, dass nicht nur Schwarze Menschen in Deutschland, sondern auch indigene Gemeinschaften im Globalen Süden das Recht haben, mitzubestimmen, was es bedeutet, koloniale und weiße Strukturen im Kontext des europäischen Museums abzubauen. Nicht selten stellt sich dann nämlich heraus, dass sich indigene Perspektiven überhaupt nicht in euro-westlichen Formaten wie musealen Ausstellungen oder Kunstprojekten realisieren lassen, ohne damit epistemische Gewalt auszuüben. [4] In diesen Fällen muss das Museum seine Komfortzone vollends verlassen.

Anna Greves "Koloniales Erbe in Museen" ist ein wichtiges Buch für die Theorie und Praxis des Museums und eine inspirierende Ressource für Ideen, wie man Museumsarbeit gestalten kann, die sich auf die Herausforderung einlässt, das Museum als weißen Raum zur Disposition zu stellen.


Anmerkungen:

[1] Als grundlegendes Überblickswerk für die deutsche Diskussion gilt dieser Band, der bereits in der vierten Auflage erschienen ist: Susan Arndt / Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche (Hrsg.): Mythen, Masken Und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2017.

[2] Anna Greve: Farbe - Macht - Körper: Kritische Weißseinsforschung in der europäischen Kunstgeschichte, Göttingen 2013.

[3] Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung Der Kultur, Tübingen 2000.

[4] Andrea Scholz: Transkulturelle Zusammenarbeit in der Museumspraxis: Symbolpolitik oder epistemologische Pluralisierung?, in: Museumsethnologie - Eine Einführung: Theorien, Debatten, Praktiken, hg. von Iris Edenheiser / Larissa Förster, Berlin 2019, 142-159.

Jonas Bens