Jan Rybak: Everyday Zionism in East-Central Europe. Nation-Building in War and Revolution, 1914-1920, Oxford: Oxford University Press 2021, xiv + 351 S., ISBN 978-0-19-289745-9, GBP 65,00
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Die Geschichte des Zionismus hat in den vergangenen Jahren unter deutschsprachigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einen gewissen Forschungsboom erlebt. Während sich die meisten Studien der Situation in Deutschland widmen, hat der österreichische Historiker Jan Rybak die Entwicklungen der zionistischen Bewegung in Ostmitteleuropa analysiert. Der räumliche Rahmen seiner transnationalen Studie erstreckt sich vom österreichischen Teil des Habsburgerreichs mit dem urbanen Zentrum Wien, dem böhmischen Prag und habsburgischen Galizien bis hin zu den im Ersten Weltkrieg von Deutschland eroberten Gebieten des Russischen Reichs, darunter das heutige Litauen und Teile Polens.
Die Entwicklung der zionistischen Bewegung auf diesem Gebiet in den Jahren 1914 bis 1920 steht im Fokus der ambitionierten Arbeit, die nicht nur über ein umfassendes Orts-, sondern auch über ein Sachregister verfügt. Im Zuge des Ersten Weltkriegs sei der Zionismus, so Rybaks Ausgangsthese, zu einer Massenbewegung unter den dortigen rund vier Millionen Jüdinnen und Juden avanciert. Diesen Erfolg führt er auf ein Machtvakuum innerhalb jüdischer und staatlicher Strukturen zurück, das die Zionistinnen und Zionisten durch ein breites Engagement im Lokalen zu füllen verstanden. Angesichts existenzieller Gewalterfahrungen und Hungersnöte habe sich der Zionismus von einer eher ideologischen Gesinnungsarbeit hin zu einer aktiven Unterstützungsarbeit vor Ort verlagert. Palästina, so Rybaks überraschende These, spielte bei diesem Aktivismus im Hier und Jetzt nur eine untergeordnete Rolle und sei für viele Menschen in ihrer Hinwendung zum Zionismus nicht entscheidend gewesen. Ausschlaggebend seien dagegen die Aktivitäten von allgemeinen, sozialistischen und religiösen Zionistinnen und Zionisten gewesen, wobei letztere der drei Gruppen, auch bekannt als Misrachi, in der Analyse insgesamt etwas unterrepräsentiert ist.
Der Hauptteil der Studie ist in sechs Kapitel gegliedert. Darin beleuchtet der Autor zunächst den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der den Dreh- und Angelpunkt seiner Untersuchung bildet und mit dem sich Loyalitätsfragen innerhalb der jüdischen Diaspora neu stellten. Rybak gelingt es hier wie auch an anderer Stelle, einseitige Zuschreibungen, die oft aus zeitgenössischen Quellen übernommen wurden, differenziert aufzulösen. So fieberten nicht alle Jüdinnen und Juden im Russischen Reich einem militärischen Sieg der Mittelmächte entgegen, wie von führenden Zionisten in Berlin gern behauptet. Stattdessen verbanden sich mit dem Vordringen des deutschen Heers vielerorts Ängste und Unsicherheiten, ebenso wie pro-russische Loyalitätsbekundungen etwa in Warschau überliefert sind.
Dass strategische Überlegungen und die politische Zensur hier eine Rolle spielten, unterschlägt Rybak nicht. Sein Interesse gilt gerade den komplexen und nicht selten ambivalenten Beziehungsmustern, die aus flexiblen Positionierungen inmitten eines mörderischen Krieges resultierten.
Anschließend erörtert der Autor die humanitären Hilfsmaßnahmen anhand von Fallbeispielen. Die zionistischen Akteurinnen und Akteure, unter ihnen viele junge Frauen, treten so als selbstwirksame Subjekte hervor, die durch ihr vielseitiges Engagement neue Unterstützung gewinnen konnten. Rybak zeigt anhand von Bildungs- und Fürsorgeprojekten für jüdische Kinder und Jugendliche, einer während des Krieges besonders vulnerablen und für das nationale Projekt zentralen Gruppe, wie sich die Arbeit der Zionistinnen und Zionisten ab 1914 veränderte. Hatten sie in den Jahren zuvor noch klassisch im Sinne der Errichtung einer Heimstätte in Palästina gearbeitet, rückten nun die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung ins Zentrum. Indem sich Zionistinnen und Zionisten breit in der Zivilgesellschaft engagierten, gelang ihnen der Aufstieg zu einer führenden Kraft in der jüdischen Diaspora Ostmitteleuropas. Damit einher ging ihr selbstbewusster Anspruch, die jüdische Minderheit vollumfänglich zu repräsentieren.
Die fatalen Folgen des Krieges im östlichen Zentraleuropa, der den Zionistinnen und Zionisten zugleich neue Handlungsräume eröffnete, wirkten sich auch auf ihr Verhältnis zu den Entscheidungsträgern in der Zionistischen Organisation (ZO) aus. So beleuchtet Rybak anschaulich die Diskrepanz zwischen den beiden Gruppen in ihren jeweiligen Zielsetzungen: Während lokale Akteurinnen und Akteure in der Region auf direkte Hilfsangebote vor Ort setzten, richtete sich die Energie der zionistischen Zentrale nach der Balfour-Deklaration auf Palästina. Diese unterschiedliche Gewichtung, die aus disparaten Lebensrealitäten in Kriegszeiten resultierte, barg Konfliktpotenzial.
Die Bedeutung der britischen Erklärung von 1917, mit der die Ziele des Zionismus erstmals von einer europäischen Regierung anerkannt wurden, hat besonders die ältere Forschung hervorgehoben. Rybak zeigt dagegen, wie wenig präsent Palästina für die Aktivistinnen und Aktivisten in der krisengeschüttelten Region war, während er die Bedeutung der russischen Revolution desselben Jahres für ihre Denk- und Handlungsweisen zu Recht würdigt.
Rybak skizziert aber auch interne Konflikte zwischen den zionistischen Gruppen in Ostmitteleuropa, die sich etwa an der Kategorie der Generation entzündeten. Dadurch entsteht ein facettenreiches Spektrum zionistischer Akteurinnen und Akteure, die keine homogene Gruppe bildeten, auf die die ZO-Führung ohne Weiteres zugreifen konnte. Dass Rybak eigens auf die Rolle von Frauen eingeht, die sich wie Anitta Müller-Cohen besonders eifrig im Lokalen engagierten, ist ein weiterer Vorzug seiner anregenden Studie.
Weitere erhellende Einblicke in das weite zionistische Tätigkeitsfeld gibt der Autor am Beispiel sogenannter jüdischer Selbstwehrverbände. Sie wurden meist von Zionisten gegründet, die damit auf eine wachsende Zahl von Pogromen reagierten, die sich besonders in den Nachkriegswirren gegen jüdische Zivilistinnen und Zivilisten richteten. Diese Aktivitäten und nicht die Balfour-Deklaration, so Rybak pointiert, hätten dem Zionismus in Ostmitteleuropa zum Durchbruch verholfen.
Gleichzeitig klammert der Autor die Bedeutung der ideologischen und organisatorischen Ebene des Zionismus in dessen Ausrichtung auf Palästina aber nicht aus. Stattdessen sollen die "großen" und "kleinen" Geschichten sinnvoll miteinander verwoben und die spezifischen Entwicklungen im lokalen Kontext berücksichtigt werden. (4) Dieser Ansatz ist äußerst innovativ und im Ergebnis auch sehr bereichernd, führt jedoch an manchen Stellen des Buches dazu, dass die Bedeutung des Palästinagedankens mitunter relativiert wird. Zudem hätte eine Einordnung in den bisherigen Forschungsstand den innovativen Charakter der Studie stärker herausstellen können.
Rybak ist ein überaus originelles und wichtiges Buch gelungen, das neue Impulse für die Zionismusforschung liefert. Seine Studie ist das Ergebnis umfangreicher Archivrecherchen auf drei Kontinenten. Die beträchtliche Materialfülle, die von dem polyglotten Autor ausgewertet wurde, ist beeindruckend. Auf der Grundlage dieses breiten Quellenfundus gelingt es ihm, ein lebendiges Bild von der zionistischen Bewegung in Ostmitteleuropa zu zeichnen. Von Frauen und Männern, die in einer großen Umbruchsituation aus dem Lokalen heraus agierten und sich selbstbewusst als Vertreterinnen und Vertreter einer dynamischen Nationalbewegung positionierten. Wie komplex der jüdische Nationsbildungsprozess in der Region verlief, deckt Rybak gezielt auf und ermöglicht so die Korrektur alter Narrative.
Lisa Sophie Gebhard