Johannes Hürter / Thomas Raithel / Reiner Oelwein (Hgg.): »Im Übrigen hat die Vorsehung das letzte Wort
«. Tagebücher und Briefe von Marta und Egon Oelwein 1938-1945 (= Das Private im Nationalsozialismus; Bd. 4), Göttingen: Wallstein 2021, 637 S., 5 Kt., 28 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3951-4, EUR 39,00
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Die Herausgeber publizieren zum ersten Mal mit wissenschaftlichem Anspruch Familien-Dokumente eines RAD-Abteilungsführers (Tagebücher, Familienbuch, Briefe). Das abgedruckte Textmaterial stammt von den Eltern des Mitherausgebers Reiner Oelwein (Jg. 1940), wodurch sein "natürlicher" Bezug zur Herausgabe des Werkes anzunehmen ist. Der vorliegende Band steht in Zusammenhang mit den Thesen und Ergebnissen eines Forschungsprojektes (Leibniz-Gemeinschaft 2013-2017), das die Formeln "öffentlich" und "privat" im Nationalsozialismus untersucht hat. Deutsche, angelsächsische und polnische Zeithistoriker/innen diskutierten Konzepte für einen Weg zu weiterführenden Analysen und Ergebnissen. Es ging darum zu zeigen, wie sich private und öffentliche Anliegen im Nationalsozialismus darstellen lassen, wie sie sich eventuell abgrenzen oder wie sie sich fließend verschränken und infiltrieren. Privatheit kann den persönlichen Lebensplan ausbilden, der zugleich öffentliche und intime Hintergründe kennt. Der Zeitgenosse begrüßt Öffentlichkeit, doch ist ihm einsichtig, dass er sie eventuell auch fürchten muss. Sie kann ihm progressiv nutzen oder schaden. In ihrer Einführung bilanzieren die Herausgeber drei Thesen, die sie zur Orientierung für die Diskussion der Oelwein-Edition vorstellen.
Erste These: Privatheit oder Individualität waren nach ihrer Meinung im NS-Staat schwierig ("prekär", 7) durchzuhalten. Sie wurden kollektiv ständig in Frage gestellt ("ausgehandelt", 7) und regelrecht bedroht. Dabei spielte die persönliche, die soziale Stellung eine Rolle. Die politische und die weltanschauliche Überzeugung wurden immer wieder abgefragt und waren regelmäßig unter Beweis zu stellen.
Der Rezensent gibt hier zu bedenken, dass Privatheit und Öffentlichkeit vorweg Ausschlüsse kannten. Öffentlichkeit hat es in Auswahl oder Ablehnung für Kritische, "politisch Aussortierte", Kranke, Behinderte, Religiöse nicht gegeben und für Juden schon gar nicht. Wer keine befriedigende Antwort geben konnte oder sie verweigerte, war von vornherein verdächtig. Welche "geheime Ecke" in Deutschland war damals überhaupt noch privat, wenn selbst Klostergebäude einmal im Jahr überprüft wurden. Nicht-Öffentlichkeit ist also nicht zugleich Privatheit.
Zweite These: Formal versprach das Regime immer wieder "privates Leben". Es heischte damit Anerkennung und Zustimmung. Doch beschwor es damit zugleich auch die öffentliche Mobilisierung der Massen und den gemeinen Nutzen. Es suchte Ausgrenzung bei wirtschaftlichen Krisen und bei politischen Disputen. Privates Leben war versprochene "heile Welt", aber so wenig eingehalten, dass nach 1939 praktisch nicht mehr viel davon übrig blieb. Danach bildete das Private offenbar keinen Widerspruch zur "Volksgemeinschaft" [gleich Öffentlichkeit], die vielmehr durch private Zufriedenheit gestärkt werden sollte. "Privates" Familienleben mit vielen Kindern, mit Konsum (KDF) und skurrilen Eigeninteressen bildeten nach den Erkenntnissen der Verfasser dabei gerade keinen Gegensatz zur NS-Ideologie und Öffentlichkeit, sondern "einen komplementären Ausgleich" (8) zur NS-Politik der Massenmobilisierung.
Auch hier gilt es, meiner Meinung nach, zu bedenken, dass Privatheit und Individualität sehr konkret umrissen sein konnten und "Volksgemeinschaft" als Gesinnungsgemeinschaft schon im "Neuen Brockhaus" von 1939 eher abstrakt definiert war und nie umfassend Wirklichkeit geworden ist. Das NS-Regime verlangte von den Oelweins Teilhabe an einer bescheidenen Öffentlichkeit, und die Oelweins engagierten sich, um der Vorteile willen, die sie zu erringen wünschten. Vorteile konnten aber nur im Dienst gewonnen werden. Mit Öffentlichkeit ist also viel genauer dienstliche Karriere gemeint und die musste für untergeordnete Führer wie Oelwein so spektakulär und öffentlich gar nicht ausfallen. Er war einer von vielen. Jeder Arbeitnehmer und jeder Werktätige, jeder Mann und jede Frau waren in dem Sinn öffentlich.
Dritte These: Viele "Volksgenossen und Volksgenossinnen" unterwarfen ihren Lebensplan, ihre Privatheit, ihre Art und Weise, das Leben zu gestalten und zu führen dem politischen System. Die "Volksgenossen" heischten durch die Zugehörigkeit zur "NS-Volksgemeinschaft" Nutzen, nämlich volle politische Akzeptanz und Ansehensgewinn.
Hier gilt es, nach meiner Meinung, zu bedenken dass sich im Verlauf der Zeit immer mehr Deutsche skeptisch verhielten oder sogar innerlich kündigten, was sie auch sonst noch an den Tag legen mochten. Alle konnten selbst bei einem öffentlichen Engagement für das NS-Regime rein private, egoistische Interessen für sich verfolgen, und oft taten sie das auch, indem sie Andere zu Opfern des NS-Staates werden ließen, etwa bei Kommerz, Gewinnerzielung, Produktion und Enteignung. Privatinteressen und Korruption konnten im Schutz der Teilnahme am NS-Regime weit besser verwirklicht werden. Abschließend resümieren die Bearbeiter, dass ihre interessanten Thesen angesichts einer beobachteten Vielschichtigkeit gelten. Privatheit und Öffentlichkeit zerflossen in vielgestaltigen Formen.
Genauer zu betrachten ist die Kapitelführung des vorliegenden Buches. (Kapitel Ideologie) Privatheit, Volk, Rasse und Öffentlichkeit verschmolzen bereits durch die eigene Sozialisation. Dem lag keine datierbare private Entscheidung zugrunde. Ideologische Lebensbereiche verschwammen im Diskurs durch vielfältige, an sich auch unklare Stichwörter. (Lebensumstände der Familie) Frau Oelwein war mit ihrem Mann politisch einverstanden. Sie setzte aber auch und dazu andere, zurückhaltende Akzente, die aus ihrem "Geschlecht Frau" gegenüber dem Mann hervorgingen und sich in Mutterfunktion und Soldatendienst schieden. Dienstbedingte Wohnortwechsel, Krankheiten und drei Geburten von 1938 bis 1943 belasteten Marta Oelwein anders als ihren Mann. Als ihr freiwillig eingetretener Ehemann gegen Kriegsende bei der SS fiel, wurde sie von Dritten finanziell unterstützt. Die Privatheit entfernte sich ganz aus der Öffentlichkeit. (Geschlechterverhältnis und Familie) Oelwein fungierte als der überlegene Führer seiner Familie und seiner Frau. Oelweins hatten erst spät geheiratet, und Frau Oelwein sah diese Verbindung offenbar auch angesichts ihres Alters als Chance an. Die öffentliche Ideologie beherrschte die private Kindererziehung. Privat und öffentlich bedeuteten für die Oelweins gleichermaßen die Inszenierung des Mannes. Die öffentliche Frauenrolle ist angesichts ihrer privaten Kindererziehung nicht greifbar. Ein Grundsatz aus der feministischen Sicht aber lautet. "Das Private ist politisch."[1] Privatheit [2] ist männlich und weiblich jeweils etwas Anderes, und Öffentlichkeit bietet einen solch breiten Raum, dass Definitionen (der Individualität) oder Begrenzungen (der Kollektivität) [3] unbedingt notwendig sind.
Darüber hinaus ist, meiner Meinung nach, auf progressive Veränderungen hinzuweisen, auf wechselweise öffentliche und private Dynamik und die erkennbare Emotionalisierung der Oelweins. Solche Züge werden in dem Buch durchaus beschrieben. Soziologische und psychische Gesichtspunkte und dazu vor allem strukturelle Zwänge (Bewusstsein, Denkgewohnheiten) begrenzten alle Entscheidungen der Oelweins. In dem Sinn nutzen methodische Fragestellungen nach Ehrgeiz, Angst, Antrieb, Emotionalität, Sozialisation und nach psychischen Hintergründen. Diese Dimensionen werden im diachronen Verlauf durch die Bearbeiter durchaus auch einbezogen. Doch solche Komplexe erschließen sich erst in systematisch struktureller Analyse, obwohl sie sich hier wohl nicht alle völlig klar ergründen lassen. Wir erkennen an der vorliegenden Arbeit in besonderer Weise, wie sich Dimensionen von Soziologie, Politik, Geschichte, Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse in Privatheit und Öffentlichkeit überschneiden. [4] Das zu bearbeiten, bedeutet sicher eine Herausforderung. Eine die Disziplinen übergreifende Theorie des schriftlichen Gedächtnisses, woran die Texte des Ehepaares Oelwein gemessen werden könnten, steht in der Forschung allerdings aus. [5] Aber solche Editionen wie die hier vorgelegte Arbeit sind dazu geeignet, einen Schritt dahin zu tun. In dem Sinn und unter den genannten Gesichtspunkten erscheint eine vertiefende, weitere Auswertung des vorliegenden, sehr wertvollen und auch verdienstvoll publizierten Quellenmaterials möglich zu sein.
Anmerkungen:
[1] Kirsten Heinsohn: Volksgemeinschaft und Geschlecht. Zwei Perspektiven auf die Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialimus, aus: Der Ort der "Volksgemeinschaft" in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, hgg. v. Detlef Schmiechen-Ackermann / Marlis Buchholz / Bianca Roitsch / Christiane Schröder (=Nationalsozialistische "Volksgemeinschaft". Studien zu Konstruktion, gesellschaftlicher Wirkungsmacht und Erinnerung; 7), Paderborn 2018, 245-258, hier 257.
[2] Andreas Wirsching: Privatheit, in: Winfried Nerdinger (Hg.): München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Dokumentationszentrums München, 2. Aufl. München 2015, 443-449.
[3] Moritz Föllmer: Wie kollektivistisch war der Nationalsozialismus? Zur Geschichte der Individualität zwischen Weimarer Republik und Nachkriegszeit, in: Kontinuität und Diskontinuitäten. Der Nationalsozialismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, hgg. v. Birthe Kundrus / Sybille Steinbacher (=Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus; 29), Göttingen 2013, 30-52.
[4] Theodor W. Adorno: Einleitung in die Soziologie, 4. Aufl. Frankfurt am Main 2015, 243.
[5] Ulrike Jureit: Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager (=Forum Zeitgeschichte; 8), Hamburg 1999, 43.
Ludger Tewes