Jörg Hackmann: Geselligkeit in Nordosteuropa. Studien zur Vereinskultur, Zivilgesellschaft und Nationalisierungsprozessen in einer polykulturellen Region (1770-1950) (= Veröffentlichungen des Nordost-Instituts; Bd. 19), Wiesbaden: Harrassowitz 2020, 520 S., ISBN 978-3-447-11490-5, EUR 69,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Wer sich von dieser Arbeit Einblicke in diverse Formen von Geselligkeit in Nordosteuropa über einen Zeitraum von fast 200 Jahren erhofft, wird enttäuscht sein. Es geht Jörg Hackmann in seiner Greifswalder Habilitationsschrift keineswegs darum, wie Menschen gemeinsam ihre Zeit verbracht haben. Amüsante Skandälchen und ihre gesellschaftliche Wirkung, aber auch die konkreten Aktivitäten der Protagonistinnen und Protagonisten des Vereinslebens interessieren ihn kaum. Weder steht die gesamte Region Nordosteuropa im Zentrum der Studie noch wird der im Titel genannte zeitliche Rahmen gleichmäßig abgedeckt. Geboten wird vielmehr eine umfassende Sozial- und Strukturgeschichte des Vereinswesens in den Ostseeprovinzen des Russländischen Reiches während der Zeit des sogenannten nationalen Erwachens der Esten und Letten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, einschließlich seiner Vorgeschichte seit Ende des 18. Jahrhundert sowie einiger Ausblicke auf die Veränderungen in den unabhängigen Staaten Estland und Lettland vor 1940. Mit diesem Fokus geht zweierlei einher: Erstens werden die Jahre um 1990, als es während der Perestroika in den baltischen Sowjetrepubliken zu einer Rückbesinnung auf die lokale Vereinskultur kam, häufiger angesprochen als die im Titel als Zäsur genannte Zeit um 1950, als unter der neu etablierten Sowjetherrschaft freiwillige Assoziationen in einen Dornröschenschlaf versetzt worden waren. Zweitens sucht man vergeblich systematische Informationen zu einzelnen Vereinen, auch wenn das ausführliche Register gewisse Hilfe bietet. [1]
Der grundsätzliche Anspruch der Studie geht aber über die engere Region der heutigen Staaten Estland und Lettland hinaus. Nordosteuropa - ein Regionsbegriff, mit dem sich der Autor in Nachfolge Klaus Zernacks schon seit Langem beschäftigt - ist die Folie, vor deren Hintergrund "Geselligkeit" als Strukturmerkmal analysiert wird: Nordosteuropa als Vereinsregion. Nicht wirklich überraschen kann daher auch der letzte Satz des Buches, in dem es heißt: Nordosteuropa als Geschichtsregion sei nicht allein "Produkt geschichtswissenschaftlicher Imagination", sondern vielmehr "plastisch zu begreifen" mithilfe der "spezifischen Ausprägungen von Vereinskultur". (389) Dabei bleibt aber das Regionalkonzept "Nordosteuropa" bzw. dessen Grenzen bewusst unscharf. Finnland, Schweden, Litauen, die Metropolen des Russländischen Reiches sowie das Deutsche Reich werden immer wieder - zumindest bezüglich der Zeit bis 1917/18 - vergleichend angesprochen. Hier also wird Nordosteuropa anscheinend irgendwo verortet. Dessen Konturen müssen aber wohl tatsächlich fließend bleiben, schon weil sich die jeweiligen Rahmenbedingungen für die Entfaltung von Vergemeinschaftungsprozessen sogar innerhalb eines Staates gravierend unterscheiden konnten, was Hackmann anhand des Beispiels der litauischen Gebiete am Ende des 19. Jahrhundert verdeutlicht.
Innovativ ist die Studie vor allem dank ihres intraregionalen und transnationalen Ansatzes, mit dem sie die traditionell nationalgeschichtlich orientierte Forschung zum Vereinswesen, wie sie gerade in den baltischen Staaten üblich ist, konzeptionell herausfordert und zugleich maßgeblich bereichert. Hackmann will europäische Strukturen und transnationale Entwicklungslinien herausarbeiten, um einen räumlichen Zusammenhang - "Nordosteuropa" - nachzuweisen, "der über die Ostseeprovinzen des Zarenreichs hinausreich[t]". (21) Dabei steht einmal nicht der Emanzipationsprozess der kleinen Nationen im Zentrum der Analyse, sondern die "Interdependenzen mit den anderen sprachlich-kulturellen Gruppen" (34), eben die intraregionalen und darüber hinaus die transnationalen Verflechtungen. Mit der Hinzuziehung von Entwicklungen in Skandinavien und Großbritannien setzt sich Hackmann auch pointiert von traditionellen deutschen Deutungen ab, in denen es eben deutsche Kultureinflüsse waren, welche das regionale Vereinsleben der Ostseeprovinzen geprägt hätten. Neben diesen, so der Verfasser weiter, sei auch St. Petersburg wesentlich für die frühe Ausgestaltung des Vereinslebens gewesen, für die späteren lokalen Abstinenzbewegungen vor allem Vorbilder in Schweden und Finnland. Ihrerseits habe die Vereinslandschaft der Ostseeprovinzen aber vor allem auf das übrige Russland ausgestrahlt, im Falle von Gesangsvereinen jedoch auch nach Finnland.
Nach einer sorgfältigen Einordnung der eigenen Studie in die Debatten um Geselligkeit und Zivilgesellschaft sowie einem vergleichenden Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen in Nordamerika, West- und Zentraleuropa sowie im Russländischen Reich (gefolgt von knappen Ausführungen zu Estland und Lettland in der Zwischenkriegszeit und zur UdSSR) folgt die geografische und quantitative Kartierung der Vereinslandschaft in den Ostseeprovinzen, die schon vor der Revolution von 1905/06 sehr viel reichhaltiger war als in den übrigen Provinzen des Russländischen Reiches. Dabei habe sich das Vereinsrecht dort im 19. Jahrhundert kaum fundamental von dem in Zentraleuropa unterschieden. Weder könne von "Gesellschaft als staatlicher Veranstaltung" (Dietrich Geyer) die Rede sein (war doch der Staat in den Ostseeprovinzen eher eine gesellschaftliche Veranstaltung), noch sei die in der jüngeren Städteforschung formulierte These von der "Gesellschaft als lokaler Veranstaltung" auf die Region übertragbar, da hier die regionale Dimension hinzugekommen sei (30, 80).
Aufschlussreich ist auch das Kapitel über Vereinskultur und Zivilgesellschaft. Bewusst beschränkt der Verfasser seine Analyse auf diejenigen Vereine, die eine "signifikante gesellschaftliche Prägekraft" entwickelt hätten (51). Zwar muss er den konkreten Beleg für jeden Einzelfall schon aus Quellenmangel schuldig bleiben, und auch die Kriterien dafür, was signifikant war und was nicht, bleiben unscharf. Sein Porträt der Vereinslandschaft bietet aber, gerade weil er sich von deren Instrumentalisierung in Hinblick auf das nation-building löst, neue Perspektiven. So kann er zeigen, dass die staatliche Genehmigungspraxis "örtlich wie zeitlich kaum auf einen einheitlichen Nenner zu bringen" sei (266). Zudem habe es Handlungsspielräume für freiwillige Assoziationen auch ohne behördliche Genehmigung der Statuten gegeben. Letztere seien zwar konstitutiv für das Vereinswesen in Nordosteuropa insgesamt, hätten aber unter Umständen im Alltag eher eine untergeordnete Rolle gespielt. Schließlich hinterfragt der Verfasser auch die Funktion staatlicher Kontrolle, indem er darauf hinweist, dass diese durchaus Rechte für zugelassene Vereine garantieren konnte. Das allgemeine Verbot politischer Betätigung habe die gesellschaftliche Wirkung der Vereine ohnehin nicht einschränken können. In dieser Hinsicht betont er die dank ihrer Existenz bewirkten kulturellen Prägungen des politischen Raumes.
Abwägend betrachtet Hackmann auch den Faktor "Ethnizität", gilt doch das Vereinswesen als Motor der Nationalisierung der Ostseeprovinzen. Ohne diesen Zusammenhang zu leugnen, verweist er doch immer wieder darauf, wie inklusiv das Vereinsleben in ethnischer Hinsicht sein konnte. Eine Exklusion aus ethnischen Gründen war ohnehin rechtlich nicht zu verankern in einem Land, das ja bis 1917 ein Ständestaat blieb. Mehr als im deutschen Raum seien die Vereine in den Ostseeprovinzen in dieser Hinsicht egalisierend aufgetreten, zumal der Adel den Anspruch erhob, prinzipiell allen städtischen Vereinen anzugehören. Insgesamt seien vielmehr soziale und später auch politische Exklusionsmechanismen zu beobachten gewesen. Auch ist über die Jahre immer wieder die Mitgliedschaft von Frauen zu beobachten, gerade in der Sphäre der Wohltätigkeit und später in den Bildungsvereinen. Vor 1906 waren sie zwar von geselligen Vereinen ausgeschlossen, doch hatten sie schon zuvor Anteil etwa an der Estnischen Literärischen Gesellschaft und waren nach der Revolution von 1905/06 maßgeblich an den Deutschen Vereinen beteiligt.
Wesentlich bleibt Hackmanns Befund, dass die Vereine die soziale Organisation kultureller Differenzen bewerkstelligt hätten. Auch die Gründung nationaler Vereine habe keine national homogene Sphäre geschaffen. Demgegenüber betont er, wie sehr zum Beispiel im estnischen Fall interne Differenzen zu einer immer stärkeren Ausdifferenzierung des estnischen Vereins-wesens geführt hätten (während im lettischen Bereich der Rigaer Letten Verein eine so starke Monopolstellung erreicht habe, dass es zu keiner stärkeren Ausdifferenzierung kam). Ähnliches beobachtet er auch hinsichtlich der zum Ende des 19. Jahrhundert verstärkt auftretenden russischen Klubs, in denen interne Absetzungsbestrebungen immer wieder aufgetreten seien, während im Bereich des deutschen Milieus der Faktor Ethnizität erst nach 1906 spürbar an Bedeutung gewinnen konnte.
Hackmann legt mit seiner Habilitationsschrift eine beeindruckende Gesamtdarstellung des Vereinswesens in den Ostseeprovinzen und darüber hinaus vor, die zugleich wesentliche Impulse für dessen weitere Erforschung liefert. Diesen überaus positiven Eindruck können auch die kleineren Mängel nicht schmälern, die aber an dieser Stelle doch genannt werden sollen. Die Lektüre gestaltet sich oft mühsam, unter anderem wenn es um Sachverhalte geht, die erst an anderer Stelle erklärt werden: Warum zum Beispiel der Revaler Bürgermeister im Jahre 1800 ein Vorgehen des Staats gegen Klubs im gesamten Zarenreich bewirkt haben soll, wird auf Seite 100 f. erwähnt, aber erst auf Seite 271 erläutert (343, 346). Das Problem des Rezensenten, die Unterschiede zwischen den diversen Vereinen über Hunderte von Seiten im Kopf zu behalten, wurde auch dadurch nicht gelöst, dass manchmal immer wieder dieselben Kurzinformationen geliefert werden. Der Verzicht auf Nummerierung der Unterkapitel irritiert, zumal wenn eines von ihnen nur aus vier Zeilen besteht (30). Inhaltlich vermisst man die Berücksichtigung der im 20. Jahrhundert immer häufiger anzutreffenden Arbeitervereine, aber auch hin und wieder Einschübe über den Alltag in den Vereinen. Der auf Seite 376 abgebildete Sitzungskalender diverser Rigaer Vereine für 1878 lässt einen staunen, wie Aktivisten des Vereinslebens diese dichte Terminabfolge gemeistert haben. Übrigens hätte auch die Qualität der abgedruckten Fotos deutlich verbessert werden können. Insgesamt aber bleibt nur, Hackmanns auf umfangreichem Quellen- und Literaturstudium beruhende Studie all jenen zu empfehlen, die sich zukünftig mit den trans- und intraregionalen Verknüpfungen baltischer Vereinslandschaften beschäftigen wollen.
Anmerkung:
[1] Fündig wird man bei: Jörg Hackmann (Hg.): Vereinskultur und Zivilgesellschaft in Nordosteuropa. Regionale Spezifik und europäische Zusammenhänge / Associational Culture and Civil Society in North Eastern Europe. Regional Features and the European Context, Wien u.a. 2012.
Karsten Brüggemann