Rezension über:

Julien Bérard: Kommunikation, Wissensproduktion und Kartographie. Abraham Ortelius und die Kartenproduktion im Antwerpen des späten 16. Jahrhunderts (= Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum-Verlag. Reihe: Geschichtswissenschaft; Bd. 48), Marburg: Tectum 2020, XII + 412 S., ISBN 978-3-8288-4542-8, EUR 79,00
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Rezension von:
Matthias Rekow
Sammlungs- und Forschungsverbund Gotha, Universität Erfurt
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Rekow: Rezension von: Julien Bérard: Kommunikation, Wissensproduktion und Kartographie. Abraham Ortelius und die Kartenproduktion im Antwerpen des späten 16. Jahrhunderts, Marburg: Tectum 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 6 [15.06.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/06/35070.html


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Julien Bérard: Kommunikation, Wissensproduktion und Kartographie

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"Theatrvm oder Schawplatz des erdbodems, warin die Landttafell der gantzen weldt, mit sambt aine der selben kurtze erklarung zu sehen ist." [1], so lautet der Titel der 1572 von Abraham Ortelius (1527-1598) autorisierten, ersten deutschen Ausgabe seines erfolgreichen lateinischen Erstdrucks "THEATRVM ORBIS TERRARVM" [2] aus dem Jahr 1570. Dieses kann zu Recht als "das erste, eigenständig erschienene, systematisch und weltweit angelegte Druckwerk [gelten], dessen bewußter quantitativer und thematischer Hauptinhalt geographische Karten" [3] waren. Julien Bérard widmet dem Kartographen, Geographen und Verleger Abraham Ortelius, der Kartenproduktion und kosmographischen Wissensproduktion im Antwerpen des späten 16. Jahrhunderts seine vorliegende Untersuchung. Die Entwicklung des kosmographischen Wissens über den 'Schauplatz der Welt' bei Ortelius wird dabei als ein komplexer Vorgang betrachtet, der durch vielfältige Faktoren - Gelehrsamkeit, Ideale, Tradition, Wirtschaftlichkeit, Medialität, Kommunikationsnetzwerke, alte und neue Weltbilder - bestimmt wurde. Im 16. Jahrhundert habe sich gerade in Antwerpen, einem der Knotenpunkte im europäischen Kommunikations- und Handelsnetzwerk, die Verlagskartographie als ein ökonomisches, kollaboratives und effektives Projekt etabliert, das kosmographische Informationen in Prozessen der Wissensproduktion sammelte, anreicherte, neu formierte, vervielfältigte und verbreitete.

Julien Bérard stellt einleitend die Frage nach der Erzeugung des kosmographischen Wissens im Antwerpen des späten 16. Jahrhunderts (4). Über die Einordnung seines Themas in das Forschungsumfeld (5), Diskussion der kulturgeschichtlichen Ansätze mit Besprechung der wesentlichsten Literatur (5-20), Ziel (20) und Inhalt (20-26) führt er in seine Arbeit ein. Aufgebaut wird diese in drei Teilabschnitten, die aufsteigend in zwei, drei und vier Kapitel gegliedert sind. Im ersten Teil schildert er den Kontext seines Untersuchungsgegenstandes, den beginnenden europäischen Welthandel und Antwerpen als Produktionszentrum kosmographischen Wissens im 16. Jahrhundert (27-87). Mit dem Fokus auf kosmographische Informationen (89-186) fasst Bérard zweitens unterschiedliche Medien und Akteure, wie den Brief und die Gelehrtenrepublik, Druckerzeugnisse und europäischen Buchmarkt sowie Seekarten und Kartographen, zusammen. Ortelius und die Produktion kosmographischen Wissens (187-348) als dritter Abschnitt referiert über den Antwerpener Verleger im Netz der kosmographischen Kommunikation, die Produktionsbedingungen der Verlagskartographie, die kartographischen Methoden des Abraham Ortelius und die imaginierte Welt in Raum und Zeit zwischen Gottesschöpfung, Neugier und Fremdheitserfahrung. Vier Appendizes (359-380) - Karten des Ortelius, Kartenvorlagen, Textvorlagen und Quellenverzeichnis - sowie ein Literaturverzeichnis (381-412) schließen die Monographie ab.

Im Ergebnis (349-358) fasst Bérard zusammen, dass die kartographischen Produkte von Abraham Ortelius trotz ihrer inneren Widersprüche im präsentierten kosmographischen Wissen und ihren vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten äußerst erfolgreich waren. Anders als Bérard argumentiert, geschah dies nicht wegen ihrer vermeintlich politisch oder konfessionell eingefärbten Botschaften (349), sondern aufgrund der kompakten Präsentationsform des neuen kosmographischen Wissens über den 'Schauplatz der Welt' in geographischen Karten mit zugeordneten topographischen Texten. Ihre Anziehungskraft und multiple Anschlussfähigkeit speisten sich aus den Wünschen, Vorstellungen und Projektionen der Reisenden, Kaufleute, Diplomaten, Gelehrten und Kartographen mit ihren jeweils ganz unterschiedlichen Interessenlagen ökonomischer, politischer, intellektueller und geographischer Natur. In Antwerpen war Ortelius eingebunden in den europaweiten Austausch von Reiseberichten, Briefen, Manuskripten und Druckwerken kosmographischen Inhalts, darüber hinaus aber auch in den Handel mit exotischen Waren und Gütern aus den außereuropäischen Gebieten. Der pulsierende Informationsmarkt der Handelsstadt ermöglichte dem Kartographen und Verleger Ortelius die Nutzung unterschiedlichster Medien für die Ansammlung, Überprüfung und Kompilation des neuen Wissens über die Welt in seinen typo- und kartographischen Präsentationen. In diesem Sinne war er Produzent, Multiplikator und Initiator für weitere Zyklen der kosmographischen Wissensproduktion über die neu entdeckten Regionen der Erde im 16. Jahrhundert.

Leider hinterlässt die Lektüre insgesamt einen zwiespältigen Eindruck: Logisch und sachgerecht geht Bérard zunächst vor, um sich seinem Untersuchungsgegenstand zu nähern. Doch tatsächlich nimmt er sich diesem erst ab der Hälfte seines Buches detailliert an. Ausführlich wird in den beiden Abschnitten und fünf Kapiteln zuvor die jeweilige Forschungsliteratur paraphrasiert und referiert. Selbst wenn man mit den aktuellen Forschungen zur Kommunikations-, Kartographie- und Wissensgeschichte des 16. Jahrhunderts nur rudimentär vertraut ist, hat man dort oder an anderer Stelle bereits ähnliches gelesen. Im dritten Teilabschnitt erfährt der Leser durch die Auswertung der Karten von Abraham Ortelius im Vergleich zu dessen Text- und Kartenvorlagen sowie durch die Analyse der erhaltenen Briefe tatsächlich Interessantes und Neues über die Arbeitsweise des Antwerpener Geographen und Kartographen. Diese Quellenarbeit ist in Summe beachtlich und anerkennenswert. Geschmälert wird dieser positive Eindruck wiederum durch die zahlreichen Redundanzen und Stilblüten, die das gesamte Werk durchziehen. Abraham Ortelius erhielt von seinem Neffen Jacob Cool (1563-1628) und William Camden (1551-1623) in London geographische Informationen, mit denen er seine Amerikakarte von 1587 aktualisieren konnte. Beide werden als "seine[..] englischen Homologen" (215) bezeichnet. [4] Außerdem würde der Rezensent gern begehren, den "himmlischen [Globus]" (228) zu sehen, welchen Johannes Bavaricus neben zwei Erdgloben im Jahre 1578 über die zeitgenössischen Netzwerke der Buchhändler gegen Globen oder Kartenwerke von Ortelius tauschte. Es wäre besser gewesen, einfach nur vom Übertrag der Erd- und Himmelsgloben zu schreiben. Die einheitliche Interpunktion, Vollständigkeit und Korrektheit in den Fußnoten schwanken erheblich. Neben fehlenden Seitenangaben [5] sind vor allem unterschiedliche Angaben zu ein und derselben Quelle ärgerlich. So wird die Karte von Abraham Ortelius "Nova totius terrarum orbis iuxta neotericorum traditiones descriptio" (361) aus dem Jahr 1564 im wissenschaftlichen Apparat einmal als "Nova totius terrarum [...] descriptio" [6], das andere Mal als "Totius orbis [...] descriptio" [7] bezeichnet, während Bérard in weiteren Fußnoten nur auf "Appendix I" [8] ohne nähere Bezeichnung der Karte verweist. Auf Seite 174 ist zu lesen, dass von dem Kartographen Diogo Ribeiro (gestorben 1533) drei vollständige handgezeichnete Weltkarten und mehrere Fragmente aus den Jahren von 1525 bis 1533 erhalten sind. Der Nachweis in Fußnote 67 führt zu "Appendix IV: Manuskripte" (376), korrekt ist jedoch "Appendix II" (366-367). Dagegen war die Zuordnung entsprechender Quellen zu den Nachweisen "Appendix 40.3" (166, Anm. 41) und "Appendix 52.1 no. 1" (185, Anm. 108) unmöglich. Auf Verlagsvorgaben beruht eventuell die irritierende und dem Rezensenten unbekannte Abkürzung "f°" für sämtliche Folio-Angaben (?). Größtes Manko dieser Arbeit ist - neben dem nachlässigen Lektorat - vor allem die fehlende Abbildung des besprochenen Kartenmaterials. In Bezug auf das Hauptwerk 'Theatrum orbis terrarum' von Abraham Ortelius mag das zu verschmerzen sein, da dieses über online verfügbare Digitalisate eingesehen werden kann. [9] Zur begleitenden Lektüre sei dem Leser deshalb zwingend ein historischer oder aktueller Atlas empfohlen, der zwar die zeitgenössischen Kartenwerke des 16. Jahrhunderts nicht ersetzen kann, zumindest jedoch eine geographische Orientierung bei der Beschreibung der Schiffsrouten und Küstenverläufe durch Bérard erlaubt. Es ist trotz der vorhandenen guten Anlagen sehr zu bedauern, dass sich für den Rezensenten mit dieser Arbeit leider kein 'Schauplatz der Welt' eröffnet hat.


Anmerkungen:

[1] Theatrvm oder Schawplatz des erdbodems, warin die Landttafell der gantzen weldt, mit sambt aine der selben kurtze erklarung zu sehen ist. Durch Abrahamum Ortelium, Antwerpen: Egidius Coppens van Diest, 1572, Titelblatt.

[2] Abraham Ortelius: Theatrvm Orbis Terrarvm, Antverpiae: Aegid. Coppenius Diesth 1570, Titelblatt.

[3] Peter H. Meurer: Fontes cartographici Orteliani. Das "Theatrum orbis terrarum" von Abraham Ortelius und seine Kartenquellen, Weinheim 1991, 1.

[4] Homólogos, griech., bedeutet so viel wie übereinstimmend und eigentlich. Vgl. hierzu auch 225 und 352.

[5] Vgl. nur die Seiten 207, Anm. 80; 208, Anm. 86 und 211, Anm. 93.

[6] Vgl. nur die Seiten 189, Anm. 1; 310, Anm. 16 und 17; 311, Anm. 20; 315, Anm. 41; 316, Anm. 48; 320, Anm. 62; 321, Anm. 63.

[7] Vgl. nur die Seiten 196, Anm. 29; 197, Anm. 32; 206, Anm. 79; 213, Anm. 98; 260, Anm. 110; 272, Anm. 22; 289, Anm. 84; 307, Anm. 6; 323, Anm. 75 und 80; 326, Anm. 88.

[8] Vgl. nur die Seiten 318, Anm. 54 und 56; 319, Anm. 57.

[9] Vgl. http://diglib.hab.de/drucke/2-1-1-geogr-2f/start.htm [letzter Zugriff: 8. Mai 2022].

Matthias Rekow