Verena Wirtz: Ästhetisierung. Kunst und Politik in der Zwischenkriegszeit, Frankfurt/M.: Campus 2021, 381 S., 5 s/w-Abb, ISBN 978-3-593-51459-8, EUR 45,00
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Im Jahr 1935 fordert Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit dazu auf, die Kunst zu politisieren, um die Ästhetisierung der Politik im Faschismus zu verhindern. Der darin erkennbaren Verschränkung der beiden Prozessbegriffe 'Ästhetisierung' und 'Politisierung' widmet sich die aus dem Jahr 2021 stammende Studie Ästhetisierung. Kunst und Politik in der Zwischenkriegszeit von Verena Wirtz.
Ihr liegt die Überlegung zugrunde, dass sich die wechselseitige Befruchtung von Kunst und Politik infolge des Ersten Weltkriegs intensivierte: als Reaktion auf die Kriegsniederlage und als Ausdruck der erhofften nationalen Kultursynthese. Die "Ineinanderblendung von Kunst und Politik" als Charakteristikum der Zwischenkriegszeit begreifend, verfolgt die Verfasserin das doppelte Anliegen, "die Funktion und Bedeutung von Kunst und Ästhetik im Bereich des Politischen" sowie die "politische Dimension künstlerischer Manifeste, Aktionen und Visionen" als "Beziehungsgeschichte" zu analysieren (25). Ihr Fokus liegt dabei auf der Ästhetisierung der Politik, insbesondere der Kulturpolitik. Gewinnbringend für die Frage nach der Politisierung der Kunst wäre sicherlich auch die Berücksichtigung der neusachlichen Literatur gewesen, die die Politisierung zum zentralen Anliegen ihrer Poetik erhob - dies hätte auch die verkürzte Festlegung der Neuen Sachlichkeit auf eine "Verhaltenslehre der Kälte", die nur propagierte, "wer keine radikale Wende im Sinn hatte" (63), verhindern können.
Methodisch möchte Wirtz ihren Ansatz als "Öffnung der Begriffs- hin zu einer Bedeutungsgeschichte" verstanden wissen (15) und trägt diesem in Form von instruktiven "lexikalischen Gänge[n] durch die Bedeutungsgeschichte von Kunst und Politik, Staat und Ästhetik" (30) Rechnung. Damit gelingt es ihr, die jüngere Weimar-Forschung, die das Urteil vom symbolpolitischen Versagen der Republik revidieren und die Bemühungen um eine demokratische Kulturpolitik in den Fokus rücken konnte, gewinnbringend zu ergänzen. Insofern Wirtz die Jahre 1910 bis 1940 als Untersuchungszeitraum wählt, kann sie die Kontinuitäten und Brüche zwischen der Weimarer und der nationalsozialistischen Kulturpolitik und den dazugehörigen Diskursen aufzeigen.
Die Kapitel eins und zwei rekonstruieren "die historische Herkunft beider Prozessvorstellungen vor dem Ersten Weltkrieg" (317). Diese erkennt Wirtz in der Transformation des Ästhetizismus der Jahrhundertwende zur Ästhetisierung sowie in der Politisierung der Kunst im Expressionismus. Der zeitgenössisch als "Ausdruck eines existenziellen Kulturkampf[s]" (84) gelesene Erste Weltkrieg katalysierte diese Entwicklung. In der Folge setzte sich parteiübergreifend die Überzeugung durch, Politik müsse sinnlich vermittelt werden (66), parallel dazu entwickelte die Avantgarde ein "neue[s] gesellschaftspolitische[s] Selbst- und Sendungsbewusstsein" (114). Indem die Grenzen zwischen Kunst und Politik durchlässiger wurden (113), gewann die Kunst an Relevanz für eine als synthetisch und synästhetisch imaginierte Politik.
Die Kapitel drei und vier gehen der "Synthesesehnsucht" und der allgegenwärtigen "Verheißung, Gegensätze aufzuheben oder Ambivalenzen zum Verschwinden zu bringen" (117), nach. Der Erfolg von Bewegungen wie dem Religiösen Sozialismus oder der Konservativen Revolution erkläre sich etwa aus dem von ihnen ausgehenden "Syntheseversprechen", das dem Streben nach "der Herstellung nationaler Einheit selbst unter den Bedingungen gesellschaftlicher Vielfalt" (148f.) entgegenkam. Anders als die Weimarer Ästhetisierungsvorstellungen zeichnen sich die des Nationalsozialismus durch ihren Willen zur "radikale[n] Wende" aus (322), deren Voraussetzung eine "Zerstörungspraxis" bildete (323), wie Wirtz anhand eines Vergleichs der "Gestaltungsvisionen" von Goebbels und Gropius (22), die dem Religiösen Sozialismus beide fasziniert gegenüberstanden, aufzeigt. Dem stehen als Beispiele der Weimarer Kulturpolitik, das Amt des Reichskunstwarts sowie der Flaggenstreit gegenüber, die von dem Versuch zeugen, "unterschiedliche Meinungen, Traditionen und Generationen unter einem Dach zu versammeln und dies auch symbolisch zum Ausdruck zu bringen" (196). Wirtz' Deutung des Flaggenstreits als Zeichen einer lebendigen Debattenkultur kann überzeugen, ist in der Form jedoch nicht ganz neu. [1]
Das fünfte Kapitel zeichnet nach, wie sich infolge des Ersten Weltkriegs ein Bewusstsein für Propaganda und ihre Notwendigkeit etablierte. Aufschlussreich erscheint die Gegenüberstellung von amerikanischem und deutschem Propagandaverständnis: Verstand man Propaganda in den USA als wissenschaftlich erforschbar und suchte sie mit der Demokratie zu versöhnen, wurde der zunächst wertneutrale Propaganda-Begriff in Deutschland in den Bereich der Kunst und das "Feld der Genieästhetik" eingegliedert (204). An eben dieses spezifisch deutsche Verständnis von der Propaganda als "Kunst der Massenbeeinflussung" (200) konnte Goebbels anschließen.
Margarethe Schütte-Lihotzkys Frankfurter Küche und Walter Ruttmanns Berlin - Die Sinfonie der Großstadt zeugen nicht nur von der Gültigkeit der "synthetisierenden Kunstpolitik" (240) in Architektur und Film, auch spiegelt sich in ihnen der "bedingungslose Gestaltungsdrang" (228) wider, dem Wirtz das siebte Kapitel widmet. Die Gegenwart als "Gestaltungsraum" und diesen wiederum als "Zeitfenster zur Zukunft" (265) begreifend, bemühten sich die "Weimarer Künstler-Politiker" (228) mit ihren alle Lebensbereiche umfassenden Formungsversuchen auf den empfundenen Ausnahmezustand zu reagieren. Dass also bereits die Weimarer Jahre durch eine "prozessual angelegte Totalgestaltungsvorstellung" (240) geprägt sind, führt Wirtz zu dem Schluss, dass es sich bei der "zeitpolitische[n] Qualität dieser Formungsvision" nicht um etwas "spezifisch Nationalsozialistisches" handele - neu sei lediglich ihre "radikale Negativität", die aus dem Fehlen eines "Wozu" resultiere (253). Deutlicher wird dies im abschließenden, achten Kapitel, in dem Wirtz dem Fehlen einer positiven Kunstpolitik im Nationalsozialismus nachgeht. So zeichne sich die "nationalsozialistische Ästhetisierungspolitik" (302), sichtbar etwa am 'Expressionismusstreit' oder der "antithetischen" Ausstellungspraxis (281), durch eine "gewaltproduzierende Gehaltlosigkeit" aus (307), die sich einer "Vorläufigkeitspropaganda" (307) bediente, um die eigenen Versäumnisse unter Verweis auf die Zukunftsvorstellung, auf ein vermeintliches Werden, zu verschleiern.
Verena Wirtz ist mit ihrer Studie ein wichtiger Beitrag zur kulturpolitisch orientierten Weimar-Forschung geglückt. Indem die Verfasserin die Kontinuität von Synthesesehnsucht und -bemühung freilegt, ist ihr Buch als Diskursgeschichte lesbar, anhand derer der zeitgenössische Bedeutungswandel sowie die Verwobenheit von der Politisierung der Kunst und der Ästhetisierung der Politik in der Zwischenkriegszeit zum Ausdruck kommt. Wünschenswert wäre lediglich die Berücksichtigung der fast gänzlich ausgesparten kulturpolitischen Bestrebungen vonseiten der KPD sowie des Feldes der Arbeiterkultur gewesen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Nadine Rossol: Fahne, Adler und Hymne. Kulturpolitische Grundsatzdebatten in der Weimarer Republik, in: Der Reichskunstwart. Kulturpolitik und Staatsinszenierung in der Weimarer Republik 1918-1933, hg. von Christian Welzbacher, Weimar 2010, 136-156.
Milena Kirwald