Stanisław Rosik: The Slavic Religion in the Light of 11th- and 12th-Century German Chronicles (Thietmar of Merseburg, Adam of Bremen, Helmold of Bosau). Studies on the Christian Interpretation of pre-Christian Cults and Beliefs in the Middle Ages (= East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450-1450; Vol. 60), Leiden / Boston: Brill 2020, VII + 441 S., eine Kt., 6 s/w-Abb., ISBN 978-90-04-27888-2, EUR 127,00
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Der polnische Historiker Stanisław Rosik ist mehrfach mit Beiträgen zur slavischen vorchristlichen Religion hervorgetreten. Da diese zumeist in polnischer Sprache veröffentlicht sind, ist die jüngste Publikation seiner Überlegungen in englischer Sprache außerordentlich zu begrüßen. Denn damit wird nicht nur das Phänomen des zeitweiligen Überlebens der slavischen Glaubensvorstellungen in einer christlichen Umwelt einer größeren, wenn auch zunächst vorwiegend wissenschaftlichen, Öffentlichkeit vor Augen geführt. Vielmehr ist damit auch die vermehrte Kenntnis über die slavische Vergangenheit von Regionen verbunden, die im Laufe des hohen und späten Mittelalters deutsch wurden. Die mittelalterlichen Chronisten, die darüber berichten und die ihre Chroniken natürlich in Latein verfassten, gehörten dem sächsischen Milieu der christlichen, missionierenden Kirche an der Grenze zu den Slavengebieten an und vertraten prinzipiell die Interessen ihrer (Erz-)Bistümer und ihrer weltlichen Schutzherren, die nominell seit der Mitte des 10. Jahrhunderts durch Neugründung oder Ausweitung die geistliche Oberhoheit über die Slaven in den Elbmarken und entlang der Ostsee gewonnen hatten.
Die leitende Fragestellung der hier besprochenen Studie bezieht sich aber eigentlich nicht auf das Geschehen im Verlauf der Ausweitung des Christentums östlich von Elbe und Saale samt der Reaktionen der betroffenen slavischen Bevölkerungen, sondern auf das Konzept der historischen Berichterstattung, auf eine vermutete interpretatio Christiana, die in der deutschen Forschung der Vorkriegszeit zuerst in Bezug auf die Germanen (Herbert Achterberg, 1930) und dann auf die Slaven (Erwin von Wienecke, 1940) angewandt wurde, bei Letzterem verbunden mit der Verneinung einer weit entwickelten, eigenständigen slavischen Religion, die sich durch Polytheismus auszeichnet, zugunsten einer postulierten urzeitlichen Dämonolatrie. Demgegenüber stellt Rosik einleitend fest: "Das Konzept von interpretatio Christiana sollte entlang von Forschung über die Kultur und das intellektuelle Leben der Kreise entwickelt werden, die die schriftlichen Hauptquellen für Studien über die slavische Religion schufen. Das wird in dem vorliegenden Band unternommen." (2).
Dass dabei die historischen Begleitumstände, die Existenz des eigentlichen Objekts der Anwendung des interpretatio Christiana-Konzepts, nicht aus dem Blick geraten dürfen, verdeutlicht die "Einführung" mit ihrem Überblick über die verschiedenen Forschungsansätze zur slavischen Frühgeschichte, die im Zusammenhang mit der "Religion" der Slaven stehen. Religion will der Autor als "besondere Sphäre ihres sozialen Lebens" verstehen, "die eine weite Bandbreite von Phänomenen umfasst, die die Einstellung der Gemeinschaften zur Sphäre des sacrum umfasst." (6). Angesichts der in diesem Zusammenhang erwähnten verschiedenen Versuche, ein angemessenes Attribut für diese "Religion" zu finden (heidnisch, pagan, vorchristlich, ursprünglich, urtümlich), das nicht pejorativ wirkt, verwundert es, dass die von Hans-Dietrich Kahl schon vor mehr als einem halben Jahrhundert vorgeschlagene Unterscheidung der (slavischen) "Gentilreligion" von der (christlichen) "Universalreligion" [1] keine Erwähnung findet.
Letztlich läuft Rosiks Studie auf die Frage hinaus, inwieweit die in den Quellen enthaltenen Beschreibungen als real aufzufassen sind, welche Rolle die causa scribendi, die mit dem Schreiben verbundene Absicht der mittelalterlichen Chronisten, spielte sowie die dabei zur Anwendung gekommene interpretatio christiana samt der Übertragung einer aus der Bibel übernommenen Terminologie. Die Spannbreite des Interpretationsrahmens im Spiegel der Forschung erläutert der Autor zunächst am Beispiel von fünf ausgewählten Historikern (von Aleksandr Brückner im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts über von Wienecke bis zu Leszek Moszyński in den 1990er-Jahren; weitere internationale und disziplinübergreifende Interpretationsansätze kommen darüber hinaus ebenfalls zur Sprache). Auch wenn die Anmerkungen und Literaturverweise die Rezeption neuerer Forschungsliteratur ausweisen, ist hier zu spüren, dass das Buch im Grunde auf Rosiks im Jahr 2000 verfasste Dissertation zurückgeht. [2] Zwar grundsätzlich geschätzt, aber letztlich lediglich angedeutet, ist auch die Frage, welche Rolle die Archäologie in dem gesamten Fragenkomplex spielen kann, wenn es etwa heißt, dass "die Möglichkeiten der Forschung über die Religion der Slaven durch die Entwicklung archäologischer Forschung ständig verbessert werden" (38). Eine zusammenfassende Übersicht und Diskussion dieser "Möglichkeiten" bleibt somit ein Desiderat. Sie stehen aber auch nur am Rande des Themenspektrums dieses Bandes, denn unter der "Glaubwürdigkeit der Quellen zur slavischen Religion" (28) werden die schriftlichen Quellen, nämlich die im Titel des Bandes genannten Chroniken, verstanden.
Die einzelnen Elemente slavischer Religion, die aus ihnen hervortreten, und die Verwendung der jeweiligen Terminologie durch die mittelalterlichen Autoren erläutert Rosik umfangreich und sachkundig Punkt für Punkt, wobei am Umfang der einzelnen Kapitel auch der Stellenwert des Komplexes im Gesamtkonzept der verschiedenen Chroniken deutlich wird (Thietmar: 39-196; Adam: 197-255; Helmold: 256-382). Die vergleichende Zusammenführung aller Erörterungen bringt Rosik dann zu der "[...] Schlussfolgerung, dass nicht nur die theologische Bewertung bestimmter religiöser Phänomene des Heidentums maßgeblichen Einfluss hatte auf die Gestaltung der in diesen Texten enthaltenen Verweise auf slavische Glaubensvorstellungen und Kulte, sondern in Fortsetzung der heiligen Bibelgeschichte auch die Verwendung von Interpretationsschemata zur Darstellung von Geschichte in Form von Chronikerzählungen." (383). Die an dieser Stelle etwas umständliche, wohl der Übersetzung aus dem Polnischen ins Englische geschuldete, Formulierung ist leider auch kennzeichnend für einige weitere analytische und daher wichtige Textpassagen, darunter die "Schlussbemerkungen", die insgesamt auf die Zurückweisung eines "Hyperkritizismus" (389) gegenüber den slavischen Glaubensvorstellungen hinauslaufen, aber auch die Konstruktion einer slavischen Religion als ein "kompaktes System" in manchen historischen Studien als "grundlos" zurückweisen (390).
Insgesamt erhält der Leser eine zugleich quellenahe und quellenkritische Betrachtung, die auf der sorgfältigen Gewichtung der Berichte über einzelne Elemente der slavischen Religion und ihrer Rezeption in der Forschung beruht. Wer zudem fachkundige Informationen über den gentilreligiösen Lutizenbund, über sein Kultzentrum Rethra/Redigost oder zu bestimmten Gottheiten (Zvarožic, Svantevit) oder Kultpraktiken sucht, ist in Rosiks Buch an der richtigen Adresse und findet sie auf dem Weg über den umfangreichen Index.
Anmerkungen:
[1] Hans-Dietrich Kahl: Universalreligion und Gentilreligion, zuletzt in: Kahl, Hans-Dietrich: Heidenfrage und Slawenfrage im deutschen Mittelalter - ausgewählte Studien 1953-2008, Leiden 2008, 285-296.
[2] Stanisław Rosik: Interpretacja chrześcijańska religii pogańskich Słowian w świetle kronik niemieckich XI-XII wieku (Thietmar, Adam z Bremy, Helmold) (Acta Universitatis Wratislaviensis, Historia 144), Wrocław 2000.
Christian Lübke