Tamurbek Dawletschin: Von Kasan bis Bergen-Belsen. Erinnerungen eines sowjetischen Kriegsgefangenen 1941/42. Aus dem Russischen übersetzt von David M. Drevs (= Bergen-Belsen - Berichte und Zeugnisse; Bd. 11), Göttingen: Wallstein 2021, 301 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5026-7, EUR 20,00
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Zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion sind die Erinnerungen des sowjetischen Kriegsgefangenen Tamurbek Dawletschin in einer Neuauflage erschienen. Der Autor schildert seine Erfahrungen von der Einberufung in die Rote Armee im Juni 1941 bis zu seiner Entlassung aus deutscher Kriegsgefangenschaft im Juli 1942. Das Buch bietet differenzierte Einblicke in die Gesellschaften der Kriegsgefangenenlager und beschreibt das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen im Winter 1941/42. Zugleich ist es eine Abrechnung mit dem politischen System des Stalinismus.
Kommentiert werden die Erinnerungen von Camilla Dawletschin-Linder und Rolf Keller. Camilla Dawletschin-Linder ist die Tochter des Autors und Nahost-Historikerin. Rolf Keller zählt zu den Pionieren in der Aufarbeitung der deutschen Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen, an das in Deutschland - sowohl in Ost wie auch West - viele Jahrzehnte kaum öffentlich erinnert wurde. Nach der bahnbrechenden Studie von Christian Streit "Keine Kameraden" aus dem Jahr 1978 hat Rolf Keller maßgeblich dazu beigetragen, sowohl die Forschung wie auch die Gedenkstättenarbeit voranzubringen. [1] Mit der Neuauflage der bereits 2005 erschienenen und von Pavel Polian in den sehepunkten rezensierten Erinnerungen steht nun das individuelle Schicksal eines sowjetischen Kriegsgefangenen im Fokus. [2] Die Erstauflage wurde dabei durch Hinweise auf neuere Fachliteratur, Anpassungen in der Gliederung und stilistische Änderungen leicht überarbeitet. Camilla Dawletschin-Linder und Rolf Keller haben ein einmaliges historisches Dokument, das im Handel nicht mehr erhältlich war, 2021 erneut verfügbar gemacht.
Tamurbek Dawletschin war Wolgatatare, was seine Sicht auf die Ereignisse prägte und auch für sein Schicksal in Gefangenschaft von Bedeutung war. Er wurde 1904 in dem tatarischen Dorf Sildjär geboren und wuchs in einem bäuerlichen, islamisch geprägten Umfeld auf. Dawletschin studierte Jura und Wirtschaftswissenschaften und war bei Kriegsbeginn Professor an der Universität Kasan. Der Bildungsgrad schlägt sich in dem Manuskript nieder, das eine hohe sprachliche, geradezu literarische Qualität aufweist.
Die Erinnerungen beginnen mit der Einberufung und sind im Folgenden nach den Stationen der Gefangenschaft strukturiert. Dawletschin geriet in Novgorod in deutsche Kriegsgefangenschaft, durchlief einige Gefangenen-Sammelstellen, das Dulag (Durchgangslager) Porchow, das Stalag (Stammlager für Mannschaften) Riga und wurde über Pogegen bei Tilsit in Ostpreußen nach Fallingbostel und dann nach Bergen-Belsen transportiert. Der Autor beschreibt tagelange Fußmärsche, physische Gewalt, Hunger, Krankheiten und das Sterben der Kameraden.
Besonders spannend sind Dawletschins Schilderungen des Lageralltags. Wir gewinnen Kenntnisse über die Überlebensstrategien der Gefangenen, so etwa zum Handel auf dem Schwarzmarkt in den Lagern, oder zur Aneignung falscher Identitäten. Jüdische Kriegsgefangene gaben sich als Muslime aus, Offiziere als Soldaten. Der Autor zeichnet ein genaues Bild der Hierarchien in den Lagergemeinschaften mit ihren Polizisten, Dolmetschern, Köchen und der unterschiedlichen Stellung der verschiedenen sowjetischen Nationalitäten in diesem System. Auch die Kontakte der sowjetischen Kriegsgefangenen zur Zivilbevölkerung kommen zur Sprache, sowohl zur sowjetischen wie auch zur deutschen.
Dabei ist Dawletschins Blick ungewöhnlich differenziert. Er beschreibt individuelles Handeln in Extremsituationen und vermeidet kollektive Zuschreibungen. Sowjetische Kriegsgefangene schließen Freundschaften, denunzieren Juden, die "Schakale" bestehlen ihre Kameraden. Das Handeln der deutschen Wachen reicht von extremer Grausamkeit bis hin zu einer Verständigung mit den Gefangenen.
Der Autor präsentiert sich als genauer Beobachter, der die Ereignisse in den Lagern aus einer gewissen Distanz wahrnimmt. Seine Sicht auf den Stalinismus hingegen ist sehr viel stärker emotional aufgeladen. Es ist der Stalinismus und nicht der Nationalsozialismus, den er für den Abschied von seiner Familie im Juni 1941 verantwortlich macht. Den Umstand, dass er als Professor ohne militärische Ausbildung unmittelbar zu Kriegsbeginn eingezogen wurde, wertet er als Versuch der überwiegend russisch geprägten politischen Elite, sich der tatarischen Intelligencija, die eine mögliche Bedrohung ihrer Vorherrschaft darstelle, zu entledigen. Die Kritik an der sowjetischen Kriegführung sowie der Nationalitäten- und Religionspolitik zieht sich mit unterschiedlichen Stilmitteln, oft in dialogischer Form, durch den gesamten Text.
Sowjetische Befehle - der bekannteste von ihnen ist der Befehl Nr. 270 vom 16. August 1941 - belegten die sowjetischen Kriegsgefangenen kollektiv mit dem Verdacht des Verrats. Die Bedrohung aus der Heimat zeigt sich in dem Buch an der Angst der Überlebenden vor ihrer Rückkehr.
Dawletschin selbst zählte zu den rund 500.000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die nicht repatriiert wurden. Im Frühjahr 1942 wurde Dawletschin von Bergen-Belsen, wo er als Schreiber in der Lazarettverwaltung tätig war, in das Lager Wuhlheide in Berlin verlegt. Aus seinen Aufzeichnungen erfahren wir kaum etwas über seine Zeit in Wuhlheide und nichts zu den Gründen seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Juli 1942. In Wuhlheide wurden sowjetische Gefangene für unterschiedliche Funktionen in deutschen Diensten ausgebildet, darunter auch für Rekrutierung von Legionären. Eine der "Ostlegionen" in den Reihen der Wehrmacht war die "Idel-Ural"-Legion, die sich unter anderem aus entlassenen wolgatatarischen Kriegsgefangenen zusammensetzte. Dawletschin hat bis zu seinem Tod im Jahr 1983 in München betont, keine Verbindungen zur "Idel-Ural"-Legion gehabt zu haben.
Sebastian Cwiklinski hingegen nennt Dawletschin als Mitbegründer des offiziellen Organs der Legion, der Wochenzeitung "Idel-Ural." Auch habe er im Propagandaministerium ab Juli 1942 eine tatarische Radioredaktion geleitet. [3] Dawletschin selbst verstand sich als Gegner und Opfer zweier Systeme, ein in den Selbstdarstellungen sowjetischer Kollaborateure durchaus gängiges Motiv, wobei die Biographie Dawletschins keineswegs als aufgearbeitet gelten kann. [4] In der Sowjetunion war Dawletschin eine Persona non grata. Für die tatarische Nationalbewegung war und ist er bis heute eine wichtige - vor allem aufgrund seiner Publikationen zum tatarischen nation building und zur tatarischen Sprache -, aber auch eine umstrittene Figur.
Der überlieferte Text ist ein Ausschnitt aus dem bemerkenswerterweise in russischer und nicht in tatarischer Sprache verfassten Manuskript, das sich im Besitz von Camilla Dawletschin-Linder befindet. Der Autor hat die Erinnerungen zumindest im Kern aus geringer zeitlicher Distanz zu den Ereignissen niedergeschrieben. Kriegsgefangenschaft blieb während der gesamten Sowjetzeit ein Makel in der Biographie, sodass nur wenige Erinnerungen sowjetischer Kriegsgefangener überliefert sind. [5]
Erinnerungen von der vorliegenden Qualität tragen dazu bei, Forschungslücken zu schließen. Während zu strukturellen und organisatorischen Fragen des Kriegsgefangenenwesens sowie zum Arbeitseinsatz einige Arbeiten vorliegen, zählen die komplexen Beziehungen und Hierarchien in den Lagergesellschaften weiterhin zu den Forschungsdesideraten. Dawletschin vermittelt hier Einblicke, die, ergänzt durch die präsentierten Archivdokumente und die historische Einordnung, von großem Wert sind.
Anmerkungen:
[1] Ein Forschungsüberblick findet sich in: Andreas Hilger / Rüdiger Overmans / Pavel Polian (Hgg.): Rotarmisten in deutscher Hand. Dokumente zu Gefangenschaft, Repatriierung und Rehabilitierung sowjetischer Soldaten des Zweiten Weltkrieges, Paderborn 2012, 26-41.
[2] Pavel Polian: Rezension zu: Tamurbek Dawletschin: Von Kasan nach Bergen-Belsen, in: sehepunkte, Ausgabe 7 (2007), Nr. 4, http://www.sehepunkte.de/2007/04/9755.html.
[3] Sebastian Cwiklinski: Wolgatataren im Deutschland des Zweiten Weltkriegs. Deutsche Ostpolitik und tatarischer Nationalismus, Berlin 2002, 40, 54 und 78f.
[4] Vgl. auch Iksander Giljazov: Legion "Idel-Ural", Moskau 2009.
[5] Moisej Beniaminowitsch Temkin: Am Rande des Lebens. Erinnerungen eines Häftlings der nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Reinhard Otto, Berlin 2017.
Esther Meier