Rezension über:

Oliver Kühschelm: Einkaufen als nationale Verpflichtung. Zur Genealogie nationaler Ökonomien in Österreich und der Schweiz, 1920-1980 (= Werbung - Konsum - Geschichte; Bd. 3), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, XII + 636 S., 78 Abb., 17 Tbl., ISBN 978-3-11-070103-6, EUR 119,95
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Rezension von:
Benjamin Möckel
Universität zu Köln
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Benjamin Möckel: Rezension von: Oliver Kühschelm: Einkaufen als nationale Verpflichtung. Zur Genealogie nationaler Ökonomien in Österreich und der Schweiz, 1920-1980, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 10 [15.10.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/10/36606.html


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Oliver Kühschelm: Einkaufen als nationale Verpflichtung

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Die politische und moralische Aufladung des individuellen Konsumverhaltens hat eine weit zurückreichende Geschichte. Während in heutigen Konsum- und Boykottkampagnen oft Vorstellungen globaler Solidarität ins Zentrum gerückt werden, spielten nationalistisch motivierte Moralisierungsstrategien als Anknüpfungspunkte einer an Konsumierende gerichteten normativen Kommunikation schon im 19. Jahrhundert eine mindestens ebenso wichtige Rolle. Wie die vorliegende Studie zeigt, blieben diese Deutungen auch im 20. Jahrhundert von großer Bedeutung.

In seiner an der Universität Wien entstandenen Habilitationsschrift untersucht Oliver Kühschelm diesen Konnex von Nation und Konsum für Österreich und die Schweiz in der Zeit zwischen den 1920er und 1970er Jahren. Den empirischen Kern der Arbeit bilden zwei "Buy-National-Kampagnen", die in diesem Zeitraum in den beiden Ländern initiiert und über mehrere Jahrzehnte aufrechterhalten wurden: die 1915 initiierte Aktion "Schweizerwoche", die mithilfe koordinierter Medienkampagnen zum Kauf einheimischer Waren aufrief, sowie deren 1927 gegründetes österreichisches Pendant, die Arbeitsgemeinschaft "Kauft österreichische Waren!".

Kühschelms Arbeit ist jedoch keine vergleichende Analyse der beiden Kampagnen, deren Aktionen in vielen Fällen auch eher ungleichzeitig zueinander verliefen. Stattdessen möchte er anhand beider Initiativen in umfassenderer Perspektive die Genealogie "nationaler Ökonomien" in den beiden Ländern untersuchen. In Abgrenzung zum Begriff der "Nationalökonomie" versteht der Autor hierunter "die "Verschmelzung einer Trias aus imaginierter Gemeinschaft, Staat und Ökonomie" (1), die sich eher als normative Forderung denn als politisch-ökonomische Realität konstituierte. Die genannten Kampagnen fügen sich hier ein, indem sie eine "normative Ansprache an Konsument*innen" darstellten, "die das Ziel verfolgen, die Adressat*innen auf nationalbewussten respektive patriotischen Konsum zu verpflichten" (1). Die Kampagnen stellten somit den Versuch dar, einen in der Zeit normativ eingeforderten Nationalismus in konkrete Alltagspraktiken zu übersetzen.

In einer relativ weit ausgreifenden Einleitung verortet der Autor die Studie in mehreren Forschungskontexten: Einer Kulturgeschichte der Ökonomie, wie sie in den vergangenen Jahren (erneut) an Aufmerksamkeit gewonnenen hat, einer auf die Bedeutung von ökonomischen Praktiken und Diskursen abzielenden Geschichte von Nationen als imagined communities sowie einer an Michel Foucault anschließenden politischen Geschichte des Konsums als Praxis von Subjektivierung und Gouvernementalität. Auf dieser Basis postuliert der Autor eine "Konsumgeschichte zweiten Grades" (12), die nicht in erster Linie den konkreten Konsumalltag untersucht, sondern die normativen Zuschreibungen, Inszenierungen und staatlichen Regulierungen, die mit dem individuellen Konsum verbunden wurden. Zusammengefasst lässt sich die Fragestellung so formulieren: Über welche Medien, Diskurse und Praktiken konstituierte sich eine "nationale Ökonomie" als allgemein akzeptiertes normatives Ideal?

Wer eine detaillierte Studie zur "Schweizerwoche" beziehungsweise der Arbeitsgemeinschaft "Kauft österreichische Waren!" erwartet, wird daher eher enttäuscht. Die Arbeit verzichtet weitgehend auf eine chronologische Darstellung beider Kampagnen und ordnet das sehr breite Quellenmaterial stattdessen in drei systematische Teile, die erstens die Organisationen und Expertinnen und Experten, zweitens die Narrative und Inszenierungen, und drittens die Medien und ihre Adressatinnen und Adressaten in den Blick nehmen. Hieraus ergibt sich eine anspruchsvolle Architektur des Buches, der nicht immer leicht zu folgen ist. Insbesondere die systematische Trennung zwischen den Narrativen und Inszenierungen einerseits, und den Medien und Genres, in denen diese Narrative kommuniziert werden, andererseits, ist nur teilweise überzeugend. Dennoch ermöglicht es diese Struktur dem Autor, die von ihm analysierten Quellen immer wieder in die übergreifenden Fragestellungen des Buches einzubetten.

Der erste Teil des Buches verortet die "Buy-National-Kampagnen" an der Schnittstelle zwischen politischer Propaganda, cultural diplomacy zum Zwecke der Exportförderung und der kommerziellen Werbeindustrie, zu der allerdings ein ambivalentes Verhältnis bestand. Detailliert arbeitet Kühschelm heraus, wie die Diskurse und Inszenierungen von prominent in den Vordergrund gerückten Gemeinschaftsinszenierungen geprägt waren, dadurch aber oft bestimmte Exklusionsdynamiken verstärkten - insbesondere im Hinblick auf soziale, nationale und geschlechtliche Unterschiede. Mit der Inanspruchnahme wissenschaftlicher Expertise war in beiden Ländern eine Betonung "männlicher" Rationalität verbunden, bei der Frauen allein eine Rolle als Rezipientinnen von Wissen und moralischer Erziehung zugewiesen wurde. In der Beziehung zur Arbeiterschaft und -bewegung gab es Unterschiede: Während es in Österreich zu Annäherungen und Kooperationen kam, dominierte in der Schweiz lange Zeit eine dezidiert bürgerliche Selbstverortung. Nicht zuletzt entpuppten sich viele der patriotisch aufgeladenen Stellungnahmen und Selbstinszenierungen im Kern als Ausdruck einer recht pragmatischen Mittelstandslobbypolitik, die sich nicht zuletzt gegen direkte Konkurrenten - Warenhäuser ebenso wie Konsumgenossenschaften - richtete und diese von den Kampagnen auszuschließen versuchte.

Die beiden weiteren Teile des Buches bauen auf diesem Fundament auf und analysieren nun detaillierter konkrete Kampagnenstrategien. Der zweite Teil fragt nach Bildern, Narrativen und Traditionen, die in der "diskursive(n) Konstruktion von Nationalökonomie" (205) in beiden Ländern verwendet wurden. Hier spielten Rückgriffe auf längere Traditionen des ökonomischen Wissens ebenso eine Rolle wie wirkungsvolle Bildsprachen, die nicht selten auf nationalistische, rassistisch-antisemitische oder Geschlechterklischees rekurrierten. Der dritte Teil wiederum entpuppt sich als der spannendste, weil materialreichste: Hier untersucht Kühschelm äußerst unterschiedliche Medien und Genres, in denen diese Diskurse propagiert wurden - Plakate, Satirezeitungen, Vorträge, Schulaufsätze und Jugendzeitschriften. Innovativ ist dies vor allem, weil er seinen mediengeschichtlichen Zugang hier nicht auf eine semantische und visuelle Analyse beschränkt, sondern auch in praxeologischer Perspektive fragt, wie diese Medien ihre Moralkommunikation gestalteten und welche Anschlusskommunikationen und Anschlusshandlungen hieraus entstanden oder zumindest von den Initiatorinnen und Initiatoren intendiert wurden.

Im Fazit kommt Kühschelm noch einmal auf die Frage nach der Bedeutung der Kampagnen zurück. Mit guten Gründen wendet er sich gegen den Versuch einer ökonomisch quantifizierbaren Wirkungsanalyse. Vielmehr war die Skepsis bezüglich ihrer Wirksamkeit selbst ein permanent mitlaufender Diskursfaktor der Kampagnen. Der Zweck der Kampagnen habe demnach vor allem darin bestanden, den angesprochenen Konsumentinnen und Konsumenten eine enge Verbindung zwischen Patriotismus und individuellem Konsum nahezulegen.

Das Buch bietet auch insgesamt keine ganz einfache Lektüre. Die systematische Anordnung des Stoffes sorgt für diverse Wiederholungen und Exkurse, bei denen der roten Faden der Argumentation immer wieder abzureißen droht. Auch die Vergleichsperspektive zwischen den beiden Ländern wird eher punktuell als systematisch verfolgt. Und nicht zuletzt ist auch die Heterogenität des Quellenmaterials an einige Stelle eine Herausforderung: Oft entstehen hier originelle Verbindungslinien, manchmal bleiben die Bezugnahmen aber auch etwas assoziativ. Trotz dieser Einschränkungen hat Oliver Kühschelm ein dichtes, originelles und quellengesättigtes Buch vorgelegt, das in vielen Aspekten einen neuen Blick auf das Verhältnis von Konsum, Moral und Nation(alismus) erlaubt.

Benjamin Möckel