Anne Lisa Carstensen / Sabine Hess / Lisa Riedner u.a.: Solidarität - Kooperation - Konflikt. Migrantische Organisierungen und Gewerkschaften in den 1970/80er Jahren, Hamburg: VSA-Verlag 2022, 320 S., ISBN 978-3-96488-135-9 , EUR 24,80
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Lässt sich Gewerkschaftsgeschichte als Migrationsgeschichte schreiben? Wie sich ein solches Vorhaben umsetzen lässt, zeigen Anne Lisa Carstensen, Sabine Hess, Lisa Riedner und Helen Schwenken in ihrem neuen Buch. In dem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungs- und Publikationsprojekt gehen sie in sechs Fallstudien dem Verhältnis migrantischer und antirassistischer Gruppen zu Gewerkschaften nach und untersuchen die Lage in ausgewählten Betrieben.
Nach einer gemeinsam verfassten Einleitung eruiert zunächst Anne Lisa Carstensen die Situation in der Hansestadt Hamburg anhand dreier Beispiele. Es folgen daraufhin ebenfalls drei Beispiele aus der Schwabenmetropole Stuttgart, die Lisa Riedner ausführt. Eine weitere Analyse zu Frankfurt am Main erschien separat als Working Paper der Hans-Böckler-Stiftung. [1]
Sowohl Stuttgart als auch Hamburg waren überdurchschnittlich stark von Arbeitsmigration geprägt und wiesen eine entsprechende Zusammensetzung der Stadtbevölkerung auf. Deshalb lassen sich die von den Autorinnen aufgeworfenen Fragen an ihrem Beispiel gut erörtern. Das Buch beseitigt ferner ein offensichtliches Forschungsdesiderat. Es führt die umfangreiche Diskussion zu Migration mit der Geschichte der Gewerkschaften zusammen.
Dieses Ansinnen ist umso notwendiger, als die Migrantinnen und Migranten seinerzeit bereits einen hohen Anteil der Gewerkschaftsmitglieder ausmachten und oftmals einen überdurchschnittlichen Organisationsgrad aufwiesen, aber im gewerkschaftlichen Apparat und in Entscheidungspositionen unterrepräsentiert waren, wie die Autorinnen in der Einleitung ausführen. Dort erläutern sie auch ihr methodisches Vorgehen und den analytischen Rahmen. Auf der kommunalen Ebene ließen sich die aufgeworfenen Fragen besonders gut beantworten, auch weil sie viele qualitative Interviews und Workshops mit Akteurinnen und Akteuren vor Ort durchführen konnten.
In den Fallstudien zu Hamburg erläutert Anne Lisa Carstensen in vier Kapiteln die Situation in der Stadt in den 1970er und 1980er Jahren. Zunächst gibt sie einen allgemeinen Überblick über Migration, die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Lage und die Rolle der Gewerkschaften. Auch die Hafenstadt war von den strukturellen Umbrüchen jener Jahre betroffen, ganz besonders die Migrantinnen und Migranten, die ohnehin vielfacher Diskriminierung ausgesetzt waren. Vor diesem Hintergrund gründeten sich verschiedene Anlaufstellen und Begegnungsstätten. Anfänglich war der DGB stärker involviert, allerdings zeigten sich bald unterschiedliche Politikansätze: "Hier standen sozialpartnerschaftlich-korporatistische Orientierungen auf der gewerkschaftlichen Seite der eher basisdemokratisch-oppositionellen Haltung der Begegnungsstätten gegenüber." (95).
Die heftigsten Auseinandersetzungen trugen sich im Hamburger Hafen zu. Als die geplante Entlassung von mehreren tausend Arbeiterinnen und Arbeitern in Kiel und Hamburg bekannt wurde, besetzten die Beschäftigten die HDW-Werft. Dabei spielten Migrantinnen und Migranten eine zentrale Rolle. Mit ihrer kämpferischen Haltung forderten sie zugleich den Betriebsrat und die sozialpartnerschaftliche Ausrichtung der IG Metall heraus. Der Konflikt drehte sich folglich nicht nur um den Betrieb, sondern auch um Partizipationsmöglichkeiten und die innergewerkschaftliche Demokratie.
Ferner waren die 1980er Jahre durch die wachsende Ausländerfeindlichkeit, wie der Rassismus zeitgenössisch bezeichnet wurde, gekennzeichnet. Dagegen formierten sich verschiedene Gegeninitiativen, in denen die Gewerkschaften mit Migrantinnen und Migranten kooperierten. Diese Kooperation, die damit verbundenen Schwierigkeiten und die gewerkschaftlichen Probleme mit dem Antirassismus untersucht Anne Lisa Carstensten im abschließenden Kapitel zu Hamburg.
Im zweiten großen Teil beschreibt Lisa Riedner, wie sich Stuttgart trotz christdemokratischer politischer Dominanz bereits in den 1970er Jahren unter dem Oberbürgermeister Manfred Rommel als Einwanderungsstadt verstand und eine relativ progressive Kommunalpolitik betrieb. Dieses Selbstverständnis resultierte nicht zuletzt aus der ökonomischen Struktur der Region, die stark durch die Automobilindustrie und deren Zuliefererbetriebe geprägt war. Sie benötigten viele billige Arbeitskräfte und zogen dementsprechend Migrantinnen und Migranten an. Diesem Industriezweig wendet sich die Autorin auch in ihrer ersten Fallstudie zur "Plakat-Gruppe" zu, die im Mercedes-Benz Stammwerk in Untertürkheim aktiv war. Dort standen 35 Nationalitäten am Band, wie es in einem zeitgenössischen Bericht hieß. Sie zu organisieren, war eines der Ziele der linken Gruppe um Willi Hoss. Ihr hatten sich im Zuge des Zerfalls der 68er-Bewegung viele ehemalige Studierende angeschlossen, die einen Weg in die Fabrik einschlugen, um die Beschäftigten zu agitieren. Da die Gruppe mit ihren alternativen Betriebsratslisten unerwartet große Erfolge erzielte, zog sie die Gegnerschaft der IG Metall auf sich. Dennoch oder gerade deshalb gelang es ihr, mit ihrem radikalen Ansatz überproportional viele Migrantinnen und Migranten zu aktivieren, die sich im traditionellen Gewerkschaftsapparat nicht repräsentiert fanden.
Eine der heftigsten tarifpolitischen Auseinandersetzungen der 1980er Jahre drehte sich um die Einführung der 35-Stunden-Woche. Im Bezirk Stuttgart streikten dafür 30.000 Metaller. Über eine halbe Million Beschäftigter waren von ihren Arbeitgebern ausgesperrt. "Ausländische" Kolleginnen und Kollegen beteiligten sich stärker am Streik als die deutsche Belegschaft. Nichtsdestotrotz waren sie an der Streikorganisation kaum beteiligt. Die Ergebnisse, vor allem auch der lebensgeschichtlichen Interviews und Erinnerungen, trügen, so Lisa Riedner, dazu bei, "den Mythos einer weißen nationalen Arbeiterklasse, deren Stärke durch Migration geschwächt werde, historisch fundiert zu widerlegen" (227). Im abschließenden Kapitel handelt sie noch die Initiativen zur Einführung des kommunalen Wahlrechts für Menschen ohne deutschen Pass und deren politisches Engagement ab. Die IG Metall öffnete sich dieser Forderung nur langsam, aber doch früher als die meisten anderen großen Verbände oder Organisationen.
Das Buch stellt in jeder Hinsicht eine instruktive Lektüre dar, nicht nur für Gewerkschaftshistorikerinnen und -historiker. Es gelingt den Autorinnen, die Bedeutung der Migrationsgeschichte für die Gewerkschaften aufzuzeigen. Als zentrale Organisationen der industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik weist ihr Umgang mit migrantischen Beschäftigten, mit Rassismus und mit migrantischer Selbstorganisation zugleich über die Geschichte der Gewerkschaften hinaus. Damit ist die Publikation ein Beispiel für das Erkenntnispotenzial, das in der Gewerkschaftsgeschichte steckt, und dafür, wie diese gewinnbringend geschrieben werden kann.
Anmerkung:
[1] Clemes Reichhold, Working Paper Forschungsförderung Nr. 208 (2021): Migrantische Organisationen und Gewerkschaften in den 70er und 80er Jahren. Das Beispiel Frankfurt am Main; https://www.boeckler.de/fpdf/HBS-007973/p_fofoe_WP_208_2021.pdf [11.07.2022].
Sebastian Voigt