Frank Beer / Markus Roth (Hgg.): Von der letzten Zerstörung . Die Zeitschrift Fun letstn churbn der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946-1948, Berlin: Metropol 2021, 1032 S., ISBN 978-3-86331-557-3, EUR 49,00
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"Als ich in München war", schrieb 1946 der jüdische Historiker und Pionier der Holocaustforschung Philip Friedman (1901-1960), "habe ich mich mit Eurer Arbeit bekannt gemacht. Ich bin voller Bewunderung [...]. Sie wird dabei helfen, unseren Märtyrern einen Gedenkstein zu errichten, und einen wichtigen Beitrag zu dem großen Yizkor-Buch [Gedenkbuch] darstellen, das wir, [...] unseren Brüdern und Schwestern, die den Märtyrertod erlitten haben, schuldig sind zu schreiben" (46). Diese Zeilen waren der Jüdischen Historischen Kommission des Zentralkomitees der befreiten Juden in der amerikanischen Zone in München gewidmet - eines von etlichen jüdischen Dokumentationsprojekten zu Leben und Leiden, Widerstand und Vernichtung unter deutscher Besatzung, die unmittelbar nach Kriegsende in ganz Europa entstanden. Solche Projekte waren auch in vielen der etwa 70 Lager für jüdische, zumeist jiddischsprechende Displaced Persons (DP) auf von den Alliierten besetztem deutschen Boden - wie eben in München - eher Regel als Ausnahme. Die Münchner Kommission unter Leitung des promovierten Historikers Yisroel Kaplan (1902-2003) hatte kürzlich das jiddische Zeitschriftenprojekt Fun letstn khurbn (Von der letzten Zerstörung) ins Leben gerufen und Friedmans Grußwort der ersten im August 1946 veröffentlichten Ausgabe vorangestellt. Neun weitere folgten bis Dezember 1948 (hergestellt ausgerechnet, und nicht ohne Genugtuung, in der Druckerei des selbsternannten, nun endlich obsoleten "Kampfblattes" der NSdAP Völkischer Beobachter), bevor sich die Kommission 1949 auflöste. Die Gesamtauflage dieser jiddischen Zeitschrift liegt nun endlich in einer kommentierten deutschsprachigen Ausgabe samt Einleitung vor - dank der ausgezeichneten Arbeit der Herausgeber und Übersetzer:innen.
Friedmans Grußwort kam einem Ritterschlag gleich. Es unterstrich sowohl den Tatendrang des Projekts als auch dessen Zugehörigkeit zu einer weit über München hinaus reichenden Mission. Zu Recht minimal war die Hoffnung darauf, dass die Stimmen der Opfer in der nichtjüdischen Geschichtsschreibung Beachtung finden würden (48). Man empfand es als Pflicht, Holocaustgeschichte und die Erinnerung an die Gräuel und die Toten selbst proaktiv zu bewahren. Was die Wissenschaft heute Oral History nennt, bildete schon seit dem Fin de siècle die Basis jüdischer Historiografie und des Widerstands gegen Verfolgung in Osteuropa. Doch Zeugnis abzulegen, wurde nun zu einer geradezu heiligen Aufgabe aller und avancierte zum Eckpfeiler des nationalen Wiederaufbaus. Fun letstn khurbn war die einzige der vielen jiddischen Displaced Persons-Zeitschriften, die sich ausschließlich der Dokumentation dessen widmete, was wir heute "Holocaust/Shoah" nennen. Die Zeitschrift, und somit der vorliegende Übersetzungsband, gab jedoch nur eine kleine Auswahl der insgesamt 2536 Augenzeugenberichte, 423 von Kindern ausgefüllten Fragebögen, 284 Lieder, Folklore und Gedichte, 1081 Fotos, 1932 Dokumente, Filme und Bücher sowie musealen Gegenstände wieder, die seit der Auflösung der Kommission in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem noch auf ihre Erschließung warten. So steht der Band sinnbildlich für das Dilemma der Holocaustforschung: Wie umgehen mit den noch nicht ausgewerteten Massen an Zeitzeugnissen? Was sagen kuratierte Querschnitte über die Gesamtheit der Archivdokumente aus? Welche Stimmen werden bzw. wurden bei der Auswahl warum priorisiert, was (un)bewusst übergangen? Was zählte zur khurbn-Geschichte, was nicht?
Die Edition liefert Anhaltspunkte zur Beantwortung dieser Fragen. Die meisten Beiträge stammen, wenig überraschend, von Überlebenden aus Osteuropa - Polen, der Ukraine und dem Baltikum. Die meisten der jüdischen Displaced Persons hatten im Epizentrum den Massenmord überlebt - auch die Mitglieder der Redaktion. Als mögliche Konsequenz war die Definition von khurbn (Holocaust, Shoah), wer also als Überlebende/r und was als Widerstand galt, vergleichsweise eng gefasst: Man konzentrierte sich auf "direkte Überlebende" von Ghettos und Camps. Markus Roth weist in seiner ausgezeichneten Einführung auch darauf hin, dass Kaplan mitunter "recht weitgehend" redigierte (23). Dieses kaplanizirn missfiel unter anderem Friedman. Ein deutlicheres Kenntlichmachen der Eingriffe Kaplans hätte den Nutzen für die weiterführende Forschung merklich erhöht.
Besonders interessant sind die Beziehungen und Machtkämpfe sowohl unter Jüdinnen und Juden verschiedener Regionen Osteuropas (siehe zum Beispiel 96) als auch in Bezug auf jüdische Deutsche (58, 983), die auf den Seiten von Fun letstn khurbn beschrieben werden. Künftige Analysen dieser innerjüdischen Reibungen werden einen willkommenen Beitrag leisten, jüdische Geschichte während des Holocaust in ihrer Heterogenität offenzulegen und einer Monolithisierung jüdischer Opferschaft weiter entgegenzuwirken. Während sich der Hauptteil jeder Ausgabe der Kriegszeit widmet, geben die im Schlussteil dokumentierten Tätigkeitsberichte interessante Einblicke in die Vielfalt jüdischen Displaced Persons-Lebens: Es war kulturell überaus aktiv und diasporisch verzweigt. Friedman war nur eine unter vielen berühmten Persönlichkeiten, die sich vor Ort ein Bild von der Lage in den Camps machten. Es kam jedoch auch zu überraschenden Formen der Zusammenarbeit: Der deutsche Obergruppenführer der Organisation "Todt" Fritz Heft übergab der Zeitschrift zum Beispiel Fotografien von brutalen "Deportationsaktionen", die er auf einer Inspektionsreise in Siedlce aufgenommen hatte (238). In Heft Nummer 3 untermauern diese Bilddokumente den Zeitzeugenbericht der Jüdin Getsl Veysberg und versinnbildlichen so die untrennbare, ja intime Verwicklung von Opfern und Tätern, die auch in der Nachkriegszeit nicht abriss und in der Geschichtsschreibung noch viel stärkeren Ausdruck finden sollte. In diesem Zusammenhang ganz besonders hervorzuheben sind die unzähligen sprachkritischen Aufsätze: Die Frage, inwiefern sich das Jiddische linguistisch unter deutscher Besatzung verändert hatte und was dies über jüdisches Leben, Leiden und Widerstand in Ghettos und Konzentrationslagers aussagte, war eines der Hauptaugenmerke vieler Zeitschriftenbeiträge. Auch die Wissenschaft hat endlich damit angefangen, sich diesen Sprachtransformationen als einem wichtigen Schlüssel zum jüdischen Leben während des Holocaust zu widmen. Der Band wird diese Entwicklung hoffentlich noch beflügeln, insbesondere dann, wenn auch die jiddischen Originale verfügbar gemacht würden.
Leider haben sich die Herausgeber für eine "Verdeutschung" des etablierten YIVO-Transkriptionssystems entschieden, um jiddische Worte beziehungsweise Eigennamen für das deutsche Publikum "lesbarer" zu machen (38). Über diese Entscheidung ließe sich streiten. Walter Benjamin mahnt uns zu fragen: "Gilt eine Übersetzung den Lesern, die das Original nicht verstehen?" [1] Jahrhundertelang wurde das Jiddische als degenerierter "deutscher Jargon" antisemitisch gebrandmarkt. Gleichzeitig war es das mitunter wichtigste Symbol kultureller Identität, Kontinuität und Resilienz für die Zeitschriftenredakteure und die Mehrheit der Sheyres-hapleyte ("die letzten Überlebenden"; Eigenbezeichnung der jüdischen Displaced Persons-Gemeinschaft). Eine "Verjiddischung", das heißt Entfremdung, der deutschen Übersetzung in Anlehnung an das schon erwähnte YIVO-System wäre daher ratsam gewesen. Wenn man sich jedoch schon für eine "Verdeutschung" (38f.) entscheidet, sollte diese einheitlich sein. Verschiedene Schreibweisen von Eigennamen oder derselben Worte, zum Beispiel "Undzer Weg" (13) und "Undzer Veg/veg" (unter anderem 37, 109, 284), sind daher irritierend. Dies ist jedoch das einzig wirkliche Manko des hervorragend edierten Bandes.
Der Metropol Verlag ist aus der Landschaft der deutschen Holocaustforschung nicht mehr wegzudenken und unterstreicht mit diesem Band erneut seinen Einsatz, auch die essenziellen, (zu) lange marginalisierten jiddischen Quellen dem breiten deutschen Publikum zugänglich zu machen. Eine solche Perspektiverweiterung ist dringend nötig. Blendet man das Jiddische, Muttersprache eines Großteils der Holocaustopfer und vieler Überlebender, aus, erfährt man höchstens die Hälfte der Gewaltgeschichte. Ohne Jiddisch lässt sich die Geschichte jüdischen Lebens auch im frühen Nachkriegsdeutschland weder denken noch erzählen. Fun letstn khurbn ist Testament für beides und die Edition somit eine mehr als willkommene Bereicherung.
Anmerkung:
[1] Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: Gesammelte Schriften, Band IV/1, Frankfurt am Main 1972, S. 9-21, hier S. 9. Ebenda, S. 20, spricht Benjamin sich für Rudolf Pannwitzs Übersetzungstheorie aus: "unsere übertragungen auch die besten gehn von einem falschen grundsatz aus sie wolle das indische griechische englische verdeutschen anstatt das deutsche zu verindischen vergriechischen verenglischen. sie haben eine viel bedeutendere ehrfurcht vor den eigenen sprachgebräuchen als vor dem geiste des fremden werks".
Miriam Chorley-Schulz