Rezension über:

Joëlle Prim: Aventinus mons. Limites, fonctions urbaines et représentations politiques d'une colline de la Rome antique (= Collection de l'École française de Rome; 571), Rom: École française de Rome 2021, X + 589 S., ISBN 978-2-7283-1420-1, EUR 45,00
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Rezension von:
Maximiliane Gindele
Seminar für Alte Geschichte, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Maximiliane Gindele: Rezension von: Joëlle Prim: Aventinus mons. Limites, fonctions urbaines et représentations politiques d'une colline de la Rome antique, Rom: École française de Rome 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 11 [15.11.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/11/35846.html


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Joëlle Prim: Aventinus mons

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Der Aventin, einer der Hügel Roms, wird für gewöhnlich mit der Plebs, den nicht-patrizischen Bürgern, assoziiert. Dieses Bild des plebeischen Aventins geht vor allem auf Alfred Merlin zurück, der ihn 1906 als "montagne plébéienne" und "colline populaire" charakterisierte. [1] Damit beeinflusste er das Verständnis dieses urbanen Raums bis heute maßgeblich. [2] Über ein Jahrhundert blieb seine wirkmächtige Darstellung die einzige Monographie zum Aventin, doch neue Erkenntnisse, Methoden und Befunde machten eine Neubetrachtung überfällig. Auf diesen Bedarf reagierend entstanden jüngst nahezu zeitgleich zwei Dissertationen, die das Konzept des plebeischen Hügels hinterfragten und den Aventin aus einer innovativen Perspektive untersuchten: 2016 erschien Lisa Mignones The Republican Aventine and Rome's Social Order [3], nun folgte 2021 Joëlle Prims Buch.

In der Einführung (1-14) ordnet Prim ihre Arbeit in den Forschungskontext ein und begründet nachvollziehbar den gewählten Rahmen und die Vorgehensweise. Die Studie untersucht die Geschichte des Aventins von der späten Republik bis in die frühe Kaiserzeit. Dabei verzichtet sie - angesichts der Materialfülle verständlicherweise - von vorneherein auf eine allumfassende, oberflächliche Darstellung des Hügels und konzentriert sich stattdessen auf drei ausgewählte Aspekte: die Grenzen, das sozio-urbane Profil und die Heiligtümer. Dementsprechend ist das Buch in drei thematische Abschnitte gegliedert. Dies soll eine Gegenüberstellung von Elementen des Stadtraums ermöglichen, die sonst kaum miteinander konfrontiert werden (10). Den roten Faden bildet dabei die Definition des Aventins als Stadtviertel (11).

Der erste Teil (15-195) untersucht die territorialen Grenzen des Aventins beziehungsweise die Position des Hügels in Bezug auf die verschiedenen Arten von Grenzen, die Rom organisierten. Dazu widmet sich Kapitel 1 (23-30) dem Toponym 'Aventinus' und seiner Entwicklung, Kapitel 2 (31-113) analysiert die juristischen, administrativen und defensiven Grenzen und Kapitel 3 (115-195) diskutiert die Integration des Aventins in das Pomerium, die sakrale Stadtgrenze Roms, unter Kaiser Claudius. Prim zeigt anhand literarischer wie archäologischer Quellen präzise und plausibel auf, dass es sich um einen urbanen Raum mit vielfältigen territorialen Identitäten handelte: Die Grenzen und Definitionen des Aventins unterschieden sich je nach Kontext und Zeit.

Im zweiten Teil (197-345) vergleicht Prim das Bild des plebeischen Aventins mit der sozio-urbanen Realität des Hügels. In Kapitel 1 (209-255) wird zunächst die Verbindung der römischen Plebs zum Aventin analysiert, in Kapitel 2 (257-344) dann die tatsächliche soziale Zusammensetzung der Bewohner anhand literarischer, epigraphischer und archäologischer Zeugnisse ausgewertet. Diese Kapitel weisen große thematische Parallelen zu Mignones Studie [4] auf, unterscheiden sich aber in Ansatz und Ergebnissen: Mignone möchte von vorneherein das Bild des plebeischen Aventins dekonstruieren, zweifelt die Authentizität einer zentralen Quelle - der lex Icilia de Aventino publicando - an, arbeitet intensiv mit stadtgeographischen Modellen und zieht die Wohntopographie anderer Stadtviertel und die Situation in Pompeii als Vergleiche heran. Prim hingegen stellt eine weitaus offenere Frage, hält die angezweifelte Quelle für authentisch, setzt den angekündigten Einsatz stadtsoziologischer Methoden (12) nur moderat um und fokussiert sich ganz auf den Aventin. Während Mignone den plebeischen Aventin als ein rein modernes Konstrukt bewertet, wurzelt dieses Bild für Prim bereits in antiken Vorstellungen, vor allem der Erinnerung an die plebeischen Sezessionen. Zwar stellen beide die soziale Vielfalt der Aventinbewohner fest, aber während dies für Mignone den entscheidenden Beweis gegen einen Hügel der Plebs darstellt, verwirft Prim das etablierte Bild des plebeischen Aventins nicht, sondern rechtfertigt es mit einem neuen Argument, nämlich den Heiligtümern. Leider wird diese neue These erst am Ende des Buches (473) erwähnt und kaum erläutert. Prim arbeitet hier souverän eine große Materialmenge auf, lässt jedoch eine gründliche Diskussion von Mignones Argumenten vermissen. Zudem hätte dieser zweite Teil von einer etwas mutigeren Lesart, einem erweiterten Blickwinkel über den Aventin hinaus und Fotografien des archäologischen Befunds profitiert.

Der dritte und letzte Teil (347-468) analysiert die Topographie und sozio-politische Funktion der Heiligtümer auf dem Aventin. In Kapitel 1 (353-415) sammelt und lokalisiert Prim alle bekannten Kultorte. Sehr anschaulich ist dabei die Markierung der Heiligtümer auf einer Karte (544). Diese aktuelle Übersicht zur Kulttopographie bietet vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für weitere Untersuchungen. Allerdings erweist sich die katalogartige Auflistung durch ihren schematischen Aufbau als recht repetitiv und wäre zugunsten des Leseflusses besser in den Anhang ausgelagert worden. Kapitel 2 (417-468) arbeitet schließlich überzeugend heraus, wie bestimmte Aventinkulte zur gesellschaftlichen Integration marginaler Bevölkerungsgruppen - Frauen, Sklaven, Fremde - beitrugen.

Nun wäre ein Synthese-Kapitel, das die Ergebnisse der einzelnen Teile zusammenführt und als Gesamtbild interpretiert, angebracht gewesen. Stattdessen folgt direkt eine knappe Zusammenfassung der Studie (469-475). Prim bietet hier einen angenehm kondensierten Überblick zum Inhalt ihrer Untersuchung, arbeitet deren Kernaussage - die spezifische Identität des Aventins - heraus und deutet einige weiterführende Überlegungen an. Es wäre aufschlussreich gewesen, wenn sie diese interessanten Ansätze, wie den Vergleich mit anderen Hügeln, noch mehr ausformuliert hätte, beispielsweise in einem Epilog.

Den Abschluss bildet ein längerer Anhang: Die umfassende Bibliographie (477-526) stellt einen hervorragenden Ausgangspunkt für die vertiefende Lektüre dar. Die Annexe (527-547) enthalten epigraphische und literarische Quellen zu Einzelaspekten, die sinnvollerweise hier ausgelagert sind, sowie von Prim erstellte Farbtafeln, die komplexe Sachverhalte anschaulich darstellen. Gut verschlagwortete Indices (477-581) erleichtern die Benutzung des umfangreichen Werks.

Das Buch besitzt einen klar strukturierten Aufbau. Dabei ist das ausführliche Inhaltsverzeichnis mit seinen aussagekräftigen Überschriften sehr informativ, doch die Narration hätte von einer flacheren Untergliederung profitiert. Die bisweilen deskriptive Argumentation könnte etwas straffer sein und den roten Faden stärker im Blick behalten. Angesichts des Buchumfangs wären zudem mehr und besser gekennzeichnete Zwischenfazits leserfreundlich gewesen.

Der Ansatz, den Aventin anhand einzelner Elemente zu betrachten, leuchtet prinzipiell ein, allerdings bleiben die Teilstudien weitgehend voneinander losgelöst. Man vermisst das große Narrativ - eine stärkere inhaltliche Verflechtung sowie eine abschließende Synthese hätten der Argumentation gutgetan. Prims Ergebnis, das Bild des plebeischen Aventins in aktualisierter Version beizubehalten, geht so am Ende fast unter und kann nicht vollständig überzeugen. Zudem wären Vergleiche wünschenswert gewesen, um es einzuordnen und zu überprüfen: Welche Identität hatten die übrigen Hügel? Gab es anderenorts plebeische Viertel?

Insgesamt ist dieses Buch also, trotz kleinerer Schwächen, eine wissenschaftliche Bereicherung: Mit ihrer detailreichen, quellengesättigten und sorgfältigen Untersuchung des Aventins aus verschiedenen Blickwinkeln hat Prim eine wichtige Grundlage für künftige Studien vorgelegt. Der zweite Teil birgt dabei die meiste Sprengkraft für Diskurse, entfaltet diese aber erst mit Kenntnis von und in Kombination mit Mignones Studie. Ihre letztlich gegensätzlichen Einschätzungen - plebeischer versus kein plebeischer Aventin - verdeutlichen die Komplexität des Befunds und das Diskussionspotential der Thematik. Da das Buch online frei zugänglich ist [5], kann es ein großes Leserpublikum erreichen. Als umfassende Monographie zu einem lange vernachlässigten Thema, ist es Prims - und Mignones - Verdienst, diesen urbanen Raum wieder stärker in den Fokus gerückt zu haben. Es ist zu hoffen, dass diese anregenden Dissertationen im Doppelpack das Forschungsinteresse am Aventin neu entfachen werden.


Anmerkungen:

[1] Alfred Merlin: L'Aventin dans l'antiquité (= Bibliothèque des Écoles françaises d'Athènes et de Rome; 97), Paris 1906, 3-4.

[2] Merlins Charakterisierung hat sich in der Forschung als Standardlesart und Allgemeinwissen etabliert. Der 'plebeische Aventin' begegnet auch in zahlreichen jüngeren Grundlagenwerken zur stadtrömischen Geschichte und Topographie, vgl. exemplarisch Lawrence Richardson: A New Topographical Dictionary of Ancient Rome, Baltimore 1992, 47; Frank Kolb: Rom. Die Geschichte der Stadt in der Antike, München 1995, 128, 241, 429; Mario Torelli: The Topography and Archaeology of Republican Rome, in: Nathan S. Rosenstein / Robert Morstein-Marx (eds.), A Companion to the Roman Republic (= Blackwell Companions to the Ancient World), Malden 2006, 84, 93; Alexandre Grandazzi: Urbs. Histoire de la ville de Rome des origines à la mort d'Auguste, Paris 2017, 219, 256, 405, 426.

[3] Lisa M. Mignone: The Republican Aventine and Rome's Social Order, Ann Arbor 2016. Eine ausführliche Besprechung kann hier nicht erfolgen, vgl. dazu die Rezensionen von Jeffrey A. Becker, in: Cambridge Archaeological Journal 28.2 (2018), 349-350; Cyril Courrier, in: Journal of Roman Archaeology 30.2 (2017), 547-552; Owen Ewald, in: Bryn Mawr Classical Review 5 (2017); Gary Forsythe, in: Classical World 110.2 (2017), 287-288; Claire Holleran, in: Acta Classica 60 (2017), 194-197; Amy Russell, in: Classical Review 67.2 (2017), 466-468; Steven L. Tuck, in: The Classical Journal 113.2 (2018), 251-253; Hendrikus van Wijlick, in: Latomus 77.2 (2018), 592-595.

[4] Siehe [3].

[5] https://books.openedition.org/efr/7977 (16.10.2022).

Maximiliane Gindele