Michael Sauer / Friederike Runge (Hgg.): Geschichtsdidaktische Hochschullehre. Strukturen Konzepte Methoden, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2021, 199 S., ISBN 978-3-7344-1337-7, EUR 24,90
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Geschichtsdidaktische Hochschullehre ist bekanntlich ein sehr weites Feld und es gehört schon ein gewisser Mut dazu, diesen großen Forschungsbereich vermessen zu wollen. Nicht selten hat die "Qualitätsoffensive Lehrerbildung" des Bundes und der Länder dem wichtigen Bereich der Lehrer:innenbildung neue Priorität eingeräumt und der eher stiefmütterlich behandelten Hochschullehre neue Impulse verliehen. Davon handelt dieser von Michael Sauer und Friederike Runge herausgegebene, eher schmale Sammelband, der versucht, diesen Bereich stärker in das Bewusstsein geschichts- und hochschuldidaktischer Forschung zu rücken. Hierbei setzen die Herausgebenden folgende Akzente: Nach einer prägnanten Einführung von Michael Sauer über den Status quo geschichtsdidaktischer Hochschullehre in Deutschland liefert Friederike Runge in Gestalt einer Dokumentenanalyse von 150 Prüfungs- und Praktikumsordnungen und über 500 Modulbeschreibungen einen ersten Überblick über das Forschungsfeld (22). Dass diese Makroanalyse aus der Vogelperspektive geschichtsdidaktische Vielfalt konstatiert, mag nicht überraschen. Immerhin wird in 16 Bundesländern an 58 Standorten Geschichtsdidaktik als Bestandteil von Lehramtsstudiengängen angeboten und zumindest die Kerninhalte dieser Lehre berücksichtigen die von der Verfasserin gewählten Kriterien Wissen, Können, unterrichtsnahes und wissenschaftliches Arbeiten. Besonderes Augenmerk legt sie bei der Auswertung auf die Frage, ob schulformspezifische Studieninhalte vorgesehen sind. Dies treffe in etwa auf die Hälfte der Hochschulen zu, wobei der ermittelte Lehrumfang bei drei der gebildeten Lehramtstypen (mit und ohne Abituroption sowie Sonder- bzw. Förderpädagogik) von erheblichen quantitativen Unterschieden an einzelnen Standorten gekennzeichnet sei. Konstatiert wird eine Staffelung der Modultypen vom deklarativen zum prozeduralen Wissen, weshalb insgesamt von einem ausgewogenen Theorie- und Praxisverhältnis ausgegangen werden könne (30-31).
Über die von der Autorin berücksichtigten föderalen Traditionen hinaus scheint es jedoch notwendig zu sein, sich stärker auf die Binnenlogik einzelner Standorte einzulassen. Gibt es spezifisch gepflegte und auch strukturelle Traditionen in der Lehrer:innenbildung? Genießt die Lehrer:innenbildung eine gewisse Priorität seitens der Hochschulleitungen? Vielleicht noch wichtiger: Führt der permanente Akkreditierungswahnsinn nicht auch bei den Modulbeschreibungen zu pädagogischen und geschichtsdidaktischen Bekenntnissen, die in der Lehre kaum Berücksichtigung finden, zumal in diese Verfahren ja eine Vielzahl von Akteur:innen mit sehr unterschiedlichen Interessen eingebunden sind?
Christian Heuers Plädoyer gegen eine Geschichtsdidaktik als Legitimationswissenschaft und für eine geschichtsdidaktisch profilierte Lehrkräftebildung versucht, die unterschiedlichen Widersprüche zwischen Universität und Schule, zwischen Disziplin und Profession sowie zwischen Praxis- und Forschungsrelevanz gar nicht erst aufzulösen. Vielmehr fordert er, dass "mehr Fälle[...], Irritationen und Reflexivität die Relationierung zweier Praxen in den Modi der distanzierenden Einlassung und der einlassenden Distanzierung" (36) im Mittelpunkt geschichtsdidaktischer Angebote stehen sollten. Nachvollziehbar entwickelt Heuer drei Basiselemente der Hochschullehre, in der Kompetenz- und Forschungsorientierung sowie Kritik und Emanzipation zentral sind.
Leider werden diese kritischen Anregungen in den folgenden Beiträgen kaum aufgegriffen. Stattdessen werden Best-Practice-Beispiele aus unterschiedlichen Hochschulstandorten dargeboten, die vor allem Praxisphasen ins Zentrum stellen und auf eine Intensivierung von Theorie- und Praxisbezügen abzielen. Dazu gehören das "Paderborner Modell" für Langzeitpraktika (Olaf Hartung u.a.) mit der Entwicklung professioneller Handlungskompetenz (51) sowie das "Lehr-Lern-Forschungslabor" in Mainz (Meike Hensel-Grobe) mit dem Fokus auf "Kognitive Aktivierung" und "Deeper Learning" (69). Ferner wird das "Konzept zum Umgang mit sprachlicher Heterogenität" (87) in Münster (Vanessa Kilimann) vorgestellt, das mittels einer kurzen Praxisphase zeigt, dass historical learning, thinking and reflecting eng miteinander verwoben sind.
Manfred Seidenfuß erschließt geschichtsdidaktisches Neuland, indem er das Potential von Unterrichtsvignetten für die Geschichtsdidaktik erschließt, in denen er vor allem die Vorzüge der "Dosierung des theoretischen Wissens" durch "soziale[...] Rahmung" (105) sieht und damit der Forderung Christian Heuers nach fallsensiblen geschichtsdidaktischen Lehrformaten Rechnung trägt (46). Freilich wird dieses Menü-Setting unterrichtlichen Lehrens- und Lernens mit seiner Quellenauswahl nicht jedem bzw. jeder Fachhistoriker:in behagen.
Markus Bernhardt und Sven Neeb präsentieren ihren "geschichtsdidaktischen Doppeldecker", der den Herausforderungen und Perspektiven digitaler Medien in der Geschichtslehrer:innenbildung gerecht werden soll. Den Begriff des "Doppeldecker[s]" verwenden die Autoren dahingehend, dass Erwerb und Vermittlung digitaler Kompetenzen im Geschichtsstudium Priorität genießen sollte. Dabei entwickeln die Verfasser eine überzeugende Systematik praxisnaher Anwendungen und Werkzeuge für die historische Bildung an Hochschulen, unter denen digitale Organisationswerkzeuge, digitale Such-, Recherche- und Datenverwaltungsanwendungen einerseits und digitale Lehr- und Lernwerkzeuge, interaktive Lernmaterialien und narrative Anwendungen andererseits unterschieden werden können (140-146). Diese münden in ein "Kreislaufmodell zum Erwerb digitaler geschichtsdidaktischer Kompetenzen" (146), das sicherlich im Hinblick auf die Zielgruppe auch noch Platz für die eine oder andere Reflexionsschleife lassen würde.
Wiederum ein Praxisbeispiel von Viola Huang widmet sich der Rolle von "Information and Media Literacy" für den Geschichtsunterricht. Sie verfolgt das Ziel, neben dem Erwerb von historischem Wissen die Einsicht in den Konstruktionscharakter von Geschichte und den ihr unterliegenden Machstrukturen zu befördern. Als Fallbeispiel dient "African American Activism and the Media", bei dem die Black-Power-Bewegung mit der Black-Lives-Matter-Bewegung verglichen wird und anhand der Kategorien Historizität, Kulturalität und Konstruktivität eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Medialität der Welt erreicht werden soll (161-164). Nicht immer wird klar, ob hier die Kriterien des historischen Vergleichs, beispielsweise nach Jürgen Kocka, wirklich Beachtung finden und tatsächlich ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein angebahnt werden kann.
Christian Winklhöfer problematisiert in seinem Beitrag den eklatanten Mangel an universitären Lehrformaten für das sogenannte Verbundfach Gesellschaftslehre an deutschen Universitäten und weist auf die defizitäre Lehrkräftebildung in diesem Fach hin, das an integrierten Schulformen eine wichtige Rolle spielt. Auf dem schmalen Grat zwischen den Vorzügen fächerverbindenden Unterrichts und der verbreiteten, aber vielleicht auch nicht unbegründeten Klage über den Substanzverlust der beteiligten Fächer stellt er das Münsteraner Konzept "Stadt-Leben in verschiedenen Zeiten, Räumen & Strukturen" vor. Dabei formuliert er selbstkritisch, wenn er beispielsweise den hohen Koordinierungs-, Abstimmungs- und Organisationsaufwand bemängelt (174). Dass für die Gesellschaftslehre in NRW lange noch nicht einmal ein Curriculum existierte und diese Unterrichtsform häufig per se fachfremd an Schulen erteilt wurde, gehört sicherlich zu den bekannteren Miseren des Unterrichtsfachs. Profilierungsversuche der universitären Lehre können also nicht schaden.
Jessica Kreutz beschließt diesen Sammelband, indem sie den Zusammenhang von Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik in der "Geschichtslehrerausbildung" [sic!] (185) empirisch erkundet. Sie liefert erste Hypothesen über dieses wichtige Verhältnis, in dem Studierende weniger das Trennende als das Verbindende erkannten und "Kohärenz [...] als ein grundlegendes Prinzip" der universitären Lehrkräftebildung verstanden werden kann (185). Freilich lässt sich dieses Sample der Pädagogischen Hochschule Freiburg nicht ohne weiteres auf andere Hochschulstandorte übertragen, von globalen Aussagen zu Universitäten in allen Bundeländern ganz zu schweigen.
Insgesamt entsteht ein sehr buntes und vielstimmiges Bild geschichtsdidaktischer Lehre in Deutschland, das als erster Aufschlag und gelungene Anregung verstanden werden kann, sich weiterhin mit diesem Feld zu beschäftigen. Leider fehlen Praxisbeispiele von ostdeutschen Universitäten. Freilich kann und will eine solche Publikation nicht wirklich alle bestehenden Fragen beantworten. Dem Leser stellt sich jedoch diese Fragen: Wird nicht eher das eine oder andere Leuchtturmprojekt in den Vordergrund gerückt, während die anderweitigen Mühen geschichtsdidaktischer Lehre weiterhin wenig beachtet werden? Notwendigerweise ist die Auswahl an exemplarischen Projekten selektiv, kann keine Vollständigkeit beanspruchen, aber welche langfristigen Impulse qualitativ besserer geschichtsdidaktischer Hochschullehre bleiben, wenn die Fördermittel wieder versiegen? Hier wäre sicherlich eine praxisnahe kritische Reflexion wertvoll gewesen. Bei allem begrüßenswertem Schulterschluss mit den sozialwissenschaftlichen Theorien und Methoden hätte zumindest das Verhältnis zwischen Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft sowie ihrer jeweils spezifischen Methodik nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Fachlichkeit in der Lehrkräftebildung stärker geschärft werden können. Schließlich steht im Raum, ob die starke Konzentration der Beiträge und eben auch der Lehrkapazitäten in der Geschichtsdidaktik auf die zu leistende Berufsfeldorientierung - ob im Praxissemester oder in anderen Lehrformaten - nicht vielleicht auch ein Hinweis auf die schleichende Erosion des Bildungsbegriffs in den Lehramtsstudiengängen hin zu Formen des Lehramts als Ausbildungsberuf ist?
Bernd Bühlbäcker