Chiara Benati / Claudia Händl (Hgg.): Cibo e salute nelle tradizioni germaniche medievali. Food and Health in the Germanic Middle Ages (= Filologia Germanica - Germanic Philology; Supplemento 3/ 2022), Mailand: Prometheus Editrice 2022, 308 S., ISBN 978-88-8220-309-2
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Innerhalb der Publikationsreihe Filologia Germanica /Germanic Philology, herausgegeben von der Associazione Italiana di Filologia Germanica, ist ein bemerkenswerter Sammelband erschienen, fachkundig und kompetent von Chiara Benati und Claudia Händl von der Universität Genua herausgegeben, was leider auf dem Titelblatt nicht separat markiert ist. Sucht man den Band online unter dem Titel Cibo e salute..., wird man daher gar nicht fündig, weil er dem Obertitel Filologia Germanica untergeordnet ist. Es bleibt unklar, wie dieser Band zusammengekommen ist, denn er scheint auf keiner Tagung zu basieren, aber wir können sicher sein, dass alle Beiträge einer kritischen Sichtung unterworfen waren, bevor sie zur Publikation angenommen wurden, wie überall der hohe wissenschaftliche Standard bestätigt. Von den elf Aufsätzen sind vier auf Italienisch, fünf auf Deutsch und zwei auf Englisch verfasst, wozu noch die Einleitung auf Italienisch kommt. Jeder Aufsatz ist von einem Abstract auf Englisch begleitet. Der Band schließt mit einem Verzeichnis der Autoren und ihrer Universitätszugehörigkeit.
Der thematische Anspruch ist hoch gesteckt, geht es ja zum einen um die zwei großen Themen 'Ernährung' und 'Gesundheit', zum anderen haben die verschiedenen Autoren literarische oder sachliche Text vom Frühmittelalter bis zum Spätmittelalter untersucht, was es schwierig macht, echte Gemeinsamkeiten zu entdecken. Es gibt auch keinen Austausch unter den Beiträgen, was den Band etwas kaleidoskopisch und uneinheitlich wirken lässt. Dessen ungeachtet kann man ihn sehr begrüßen, gerade weil diese zwei wichtigen Themen aus unterschiedlichen Perspektiven angesprochen werden, seien es linguistische, seien es theologische Aspekte, von kulturhistorischen ganz zu schweigen, spielen diese ja immer eine zentrale Rolle. Schließlich gehört Ernährung zu den Grundbedürfnissen jedes Lebewesens, was somit besagt, dass wir jederzeit die analytische Linse auf Verhaltensformen und Essens- bzw. Trinkgewohnheiten richten können, um wichtige Erkenntnisse über soziale, religiöse oder politische Bedingungen zu gewinnen.
Historische Linguisten treten in der vorliegenden Publikation stärker ins Rampenlicht, die aber mit ihren Beiträgen eine solide philologische Grundlage für weitere kritische Studien zu Essenskulturen gerade im Frühmittelalter legen. So beschäftigt sich Maria Giovanna Arcamone mit germanischen Begriffen für einzelne Lebensmittel und Getränke, die entweder aus dem Lateinischen entlehnt wurden oder auf das Lateinische ausstrahlten, was hier gut in Tabellen vor Augen geführt wird. In recht vielen Fällen ergeben sich aber aus meiner Sicht Schwierigkeiten, eine direkte Lehnabhängigkeit wahrzunehmen. Was am Ende die ausführliche Behandlung des Nibelungenlieds hier soll, auch wenn es dort an einer Stelle um das Trinken Siegfrieds aus einer Quelle geht, bleibt jedenfalls chronologisch gesehen unerfindlich.
Von hier springt Sarah Baccianti zur altnordischen Literatur, wo sie besonders Byskupasögur und Óláfs saga helga konsultiert, um nachzuweisen, bis zu welchem Grade isländische oder norwegische Ärzte sowohl praktisches Wissen als auch Zauberformeln einsetzten. Es erweist sich als sehr zutreffend, in diesem Kontext von "intersezioni tra religione, letteratura e medicina" (48) zu sprechen.
Chiara Benati wendet sich darauf dem berühmten Handbuch der Kriegsfeldmedizin von Hans von Gersdorff (1517) zu, das selbst noch ca. 200 Jahre später handschriftlich kopiert wurde. Sie untersucht hier die Luzerner Kopie ZHB, Pp 27 4° (frühes 18. Jahrhundert) im Vergleich mit von Gersdorffs Fassung und stellt erstaunliche sprachliche Übereinstimmungen selbst nach so einer langen Zeit fest, wie es etwa der Abschnitt zum Ablass vor Augen führt, und dies trotz kontingenter und intentionaler Varianten (letztere als Resultat sprachlicher Eigenheiten des neuzeitlichen Schreibers).
Darauf folgt eine Untersuchung von Daniela Fruscione und Letizia Vezzosi über die Wandlung in der Einstellung zum Alkohol in frühmittelalterlichen Texten, wo zunächst das Trinken als wichtiger Teil öffentlicher Zeremonien angesehen wurde (z.B. in Beowulf), während in späteren Epochen, wie Gesetzesbücher (hier diejenigen von Kent) anzeigen, zunehmend Kritik daran geübt wurde, weil Exzess in dieser Hinsicht als Sünde bezeichnet wurde.
In den Bereich der Kochbücher entführt uns Elvira Glaser, die sich bisher wenig berücksichtigten schweizerischen Exemplaren des Spätmittelalters widmet und vor allem die dort genannten dominierenden Zutaten identifiziert. Deutliche italienische Einflüsse lassen sich in den zwei von ihr untersuchten Werken (Solothurn und Chur) feststellen, auch wenn die Quellen dafür noch nicht bestimmt werden können.
Mit Steinmar und Hadlaub begann, wie Claudia Händl konstatiert, eine bewusst gegen den traditionell höfischen Minnesang gerichtete poetische Bewegung, da sie in ihren Herbstliedern sich von der Liebe abwandten und diese durch Schlemmerei und Trunksucht ersetzten, was als bewusste Satire verstanden werden könnte, wie es auch ein Ulrich von Baumburg ausdrückt. Händl betont stark, dass diese Dichter im Grunde nur eine Gegenposition bezogen, sich aber dennoch weiterhin im kulturellen Kontext des Hofes bewegten ("Motivbereicherung"), was man jedoch z.T. anders sehen könnte, vor allem wenn man u.a. die schweren Klagen etwa Ulrichs von Liechtenstein in seinem Frauenbuch (1257) oder das spätere Lied "Neidtharcz gefräß" berücksichtigt, auf das sie selbst hinweist. Auch Heinrich Wittenwilers allegorische Dichtung Der Ring (ca. 1400) ließe sich in diesem Zusammenhang gut zur weiteren Erkundung dieser Thematik heranziehen. Völlerei oder Liebesdienst?
Der folgende Aufsatz stellt erneut einen erheblichen Sprung dar, denn Norbert Kössinger präsentiert ein Pest-Regimen aus dem 16. Jahrhundert, das deutlich auf Hartmanns von Aue "Der arme Heinrich" Bezug nimmt, womit wir einen kaum beachteten, aber wichtigen Rezeptionszeugen dieser berühmten Versnovelle besitzen. Kössinger identifiziert diesen Text als Beleg dafür, dass ein literarisches Werk als medizinisches Mittel verstanden werden konnte, weil ja Heinrich durch seine Gotteserkenntnis am Ende seine Gesundheit zurückerhält. Ich selbst habe dagegen argumentiert, dass er durch den Blick in die Tiefe, wo das wahre Schöne ruht, also der nackte Frauenkörper bzw. seine eigene Seele, endlich zu gesunden vermag, weil dann Gott in sein Herz blickt und seinen Gesinnungswandel erkennt. [1]
Patrizia Lendinara richtet den Blick zurück ins Frühmittelalter, indem sie hagiographische Texte Englands (St. Cuthbert, 7. Jahrhundert) daraufhin untersucht, was sie über Essenswunder wie in der Bibel zu berichten haben. Almut Mikeleitis-Winter widmet sich dem Vokabular des Althochdeutschen bezogen auf Essen bzw. Essenszubereitung und Trinken, so in den Glossen zu Anthimus' De observatione ciborum (6. Jahrhundert), in den Constitutiones Hirsaugienses (12. Jahrhundert) und den Benedictiones ad mensas Ekkeharts IV. (11. Jahrhundert), und hinterfragt die Lebenswirklichkeit der dort aufzufindenden Begriffe. Laura Poggesi untersucht, was erneut ein deutlich anderes Thema darstellt, medizinische Ratschläge gegen heftige Blutungen in einer mittelenglischen Handschrift aus dem 15. Jahrhundert (Cambridge, Trinity College, R.14.32), die deutlich die Verbindung volkstümlicher Praktiken mit gelehrter Medizin vor Augen führen.
Carla Riviello macht darauf erneut eine radikale Kehrtwende, diesmal zurück ins Frühmittelalter, insoweit als sie die altenglischen apokryphen Texte des Apostels Matthäus und des Apostels Andreas hinsichtlich der Thematisierung von Kannibalismus und dessen Überwindung durch die Missionare behandelt. Natürlich geht es auch hierbei in gewisser Weise um Ernährung, aber doch in extrem verurteilungswürdiger Weise.
Jeder einzelne Beitrag erweist sich als gut recherchiert und sehr informativ. Das Gesamtbild jedoch überzeugt nicht so recht, weil die einzelnen Themen doch sehr weit voneinander zu stehen kommen. Es geht um Kochbücher, Glossare, Pestbücher, Schlemmerlieder und alkoholische Getränke, um medizinische Rezepte und Chirurgie; am Ende wirbelt einem fast der Kopf. Die Herausgeberinnen haben durchweg gute Fachleute zusammengebracht, und die individuellen Ergebnisse sind auch weitgehend überzeugend, selbst wenn man hier und da einige Einwende anbringen könnte. Weil aber die einzelnen Studien so wenig miteinander zu tun haben, wäre doch ein Index ratsam gewesen. Die Beiträge wurden, wie ich erst ganz am Ende feststellte, hier schlicht nach der alphabetischen Reihe der Autorennamen angeordnet, was keineswegs sinnvoll ist. Sowohl in den englischen als auch den deutschen Texten sind leider noch viele sprachliche Schnitzer stehen geblieben, bei den italienischen kann ich mir kein Urteil erlauben. Trotz dieser Kritik ist zu konstatieren, dass dieser Band insgesamt sehr anregend und informativ wirkt, und es würde sich sehr lohnen, systematischer und genauer diese verschiedenen Forschungsthemen in den Blick zu nehmen.
Anmerkung:
[1] Albrecht Classen: Herz und Seele in Hartmanns von Aue "Der arme Heinrich", der mittelalterliche Dichter als Psychologe?, in: Mediaevistik 14 (2003), 7-30.
Albrecht Classen