Rezension über:

Justyna Aniceta Turkowska: Der kranke Rand des Reiches. Sozialhygiene und nationale Räume in der Provinz Posen um 1900, Marburg: Herder-Institut 2020, XI +426 S., ISBN 9783--87969-436-5, EUR 79,00
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Rezension von:
Fritz Dross
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Fritz Dross: Rezension von: Justyna Aniceta Turkowska: Der kranke Rand des Reiches. Sozialhygiene und nationale Räume in der Provinz Posen um 1900, Marburg: Herder-Institut 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 12 [15.12.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/12/37600.html


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Justyna Aniceta Turkowska: Der kranke Rand des Reiches

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Dass Gesundheitsämter hochpolitische Einrichtungen sind, muss im dritten Jahr der Covid-19-Pandemie nicht mehr ausführlich erläutert werden. Dies stellte sich allerdings noch durchaus anders dar, als Justyna Turkowska mit der Arbeit an ihrer bemerkenswerten Dissertation Der kranke Rand des Reiches begann. Speziell in der Ost- und Ostmitteleuropa gewidmeten deutschsprachigen Geschichtsschreibung spielten derlei "speziell medizinhistorische" Fragen kaum eine Rolle. Gemeinsam etwa mit der Dissertation von Katharina Kreuder-Sonnen [1] gehört die hier zu besprechende Arbeit demnach zu Pionierstudien in diesem Bereich.

Turkowska begibt sich an die Ränder und damit in die Schnittstelle historiografischer Reiche, indem sie zwischen ost(mittel)europäischer und Medizingeschichte vermittelt, dazu methodische Anregungen aus den postcolonial studies und der rezenten Wissensgeschichte aufgreift, um letztlich Fragen der Struktur und Praxis preußisch-deutscher Hegemonialpolitik in Zeiten wachsenden nationalen Selbstbewusstseins des mehrheitlich polnischsprachigen Bevölkerungsteils in der preußischen Provinz Posen zu klären. Orientierung in den ebenso breiten wie unübersichtlichen Hygienediskursen um 1900 verschafft das klug aufgezogene semantische Dreieck "Medizin - Modernisierung - Kultiviertheit".

Die Verfasserin geht in fünf die Arbeit gliedernden Schritten vor. Unter "Hygienische Kartierung" wird der Aspekt der mittels hygienischer Kontrollinstanzen verfolgten Kolonisierungsaufgaben analysiert. Erläutert werden die Initiierung, Motivation und Gründungsgeschichte der beiden zentralen Einrichtungen, nämlich des Hygiene-Instituts in Posen (1899) sowie der Medizinaluntersuchungsstelle in Bromberg (1906), die im Kern ein bakteriologisches Labor betrieb. Ausgehend von der Gründung und dem Betrieb insbesondere dieser beiden Einrichtungen, die alles andere als konfliktfrei verliefen, werden die weitergehenden Aspekte ihrer politischen Funktionen ("Biopolitik 'in Szene setzen'") - auch und gerade deren widersprüchliche Rolle für nationale und nationalistische Ziele - untersucht.

Im folgenden Abschnitt ("Hygienische Nischen und ihre Bewohner") werden die diskursleitenden und insofern "skandalisierten" (Alfons Labisch) Krankheiten Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten sowie Alkoholismus als Konteragenten einer Gesundheitspolitik vorgestellt, die sich vorerst auf medizinisch-kurative Versorgungseinrichtungen konzentriert hatte und nun von weit ausholenden Hygiene-Konzepten geradezu überrundet wurde. Als "Nische" werden die Diskurse um diese Erkrankungen zu Wissensräumen eigener Qualität, die innerhalb des Dreiecks "Medizin - Modernisierung - Kultiviertheit" die zentralen Debatten der Epoche aufgriffen. Unmittelbar anschließend erläutert Turkowska die "Narrativität der Nischen" und zeigt, wie die Debatten zu diesen "Volkskrankheiten" insbesondere durch die Möglichkeit zur weiteren Differenzierung in allgemeiner sozialpolitischer Hinsicht, bezüglich der "Frauenfrage", mithin Gender-Aspekten und mancher mehr, geradezu leitmotivisch die zentralen Diskurse der Epoche integrieren konnten, sobald das Metamotiv "Hygiene" zur Hand war.

Über die politische und verwaltungsinterne, sodann die gelehrte Auseinandersetzung hinweg war unter dem Dach der Hygienedebatten ein gewaltiger Anspruch auf "Volksaufklärung" erwachsen, der in Deutschland insbesondere mit der Internationalen Hygiene-Ausstellung (1911) und der nachfolgenden Gründung des Deutschen Hygienemuseums in Dresden (1912) verbunden wird. Für den Untersuchungsraum kartiert Turkowska den als Volksauferklärung konzipierten Ausstellungsbetrieb ("Hygienische Welt(ver-)ordnung zur Schau gestellt") mit seinen Widersprüchlichkeiten speziell hinsichtlich einer je national(istisch) konzipierten Weltverbesserung ("(A-)nationale Heteropien"). Auf einer konkreteren Ebene ist schließlich den Krankenhäusern und Genesungsanstalten als "Heilstätten als Orte der gesellschaftlichen Genesung" ein weiteres Kapitel gewidmet.

Die diskursgeschichtlich angelegte Arbeit folgt dem Pfad, den vor über 20 Jahren insbesondere Philipp Sarasin [2] beschritten hat, nicht ohne diesen um wesentliche Aspekte zu bereichern - insbesondere die aus den postcolonial studies gewonnenen Aspekte der Kolonisierung ergänzen trefflich die Perspektive. So erstaunt die Leser:in sein mag, im ersten Satz des Vorworts zu erfahren, dass die Idee zu diesem Buch in einer kleineren Studie der Autorin über den Wissenstransfer zwischen dem (deutschen) Kaiserreich und dem (südafrikanischen) Transvaal entstanden sei, so überzeugt wird sie oder er sein, ist das Buch einmal ganz durchgelesen - und dies sei hiermit dringend empfohlen. Turkowska gelingt es ganz vorzüglich, im Lichte des moralischen und stets auch moralisierenden Hygienediskurses eine deutsch-polnische Verflechtungsgeschichte darzulegen, welche die inneren Widersprüche des hygienischen Traums von einer geheilten Welt treffend markiert. Ebenso bietet sie von dort aus einen weiten Ausblick auf eine facettenreiche Geschichte des Zusammenlebens und der Konflikte von gesunden und kranken, deutsch- und polnischsprachigen, (formal) gebildeten und weniger gebildeten, katholischen, protestantischen und jüdischen, reicheren und ärmeren Menschen - ohne Gewaltverhältnisse zu verschleiern oder zu beschönigen.

Anmerkungen:

[1] Katharina Kreuder-Sonnen: Wie man Mikroben auf Reisen schickt. Zirkulierendes bakteriologisches Wissen und die polnische Medizin 1885-1939, Tübingen 2018.

[2] Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt am Main 2001.

Fritz Dross