Florian Grumbach: Predigt, Publikum und Seelenheil. Lutherische Pfarrpraxis im Berlin des 18. Jahrhunderts (= Schriftenreihe "Religion und Moderne"; Bd. 23), Frankfurt/M.: Campus 2022, 415 S., 6 Abb., 3 Tbl., ISBN 978-3-593-51519-9, EUR 45,00
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Ein mit "Mord und Totschlag" (16) beginnendes Buch über Pfarrer im 18. Jahrhundert hat es wohl so noch nicht gegeben: Der Fall des Kürschnergesellen Briesemann, der am Morgen des 11. Januar 1710 seinen schlafenden Meister erschlug, hatte mangels hinreichender Beweislage ein öffentliches Zerwürfnis der Berliner Pfarrerschaft nach sich gezogen - und lässt zugleich auf die Vielzahl sozialer Rollenerwartungen und Handlungsfelder schließen, mit denen Geistliche im Zeitalter der Aufklärung konfrontiert waren. Diesem Thema widmet sich die vorliegende Arbeit von Florian Grumbach, die 2021 am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen und mit dem Wissenschaftspreis des Vereins für die Geschichte Berlins ausgezeichnet wurde. Es wird der ambitionierte Anspruch verfolgt, unter Einbeziehung gesellschafts-, kultur- und ideengeschichtlicher Perspektiven ein differenziertes Gesamtbild des lutherischen Pfarrerstandes im Berlin des 18. Jahrhunderts zu zeichnen. Herangezogen werden sollen alle in diesem Zeitraum entstandenen Akten zu geistlichen Angelegenheiten und Publikationen von Pfarrern. Eine derart umfassende Studie ist sicher ein verdienstvolles Unternehmen. Jedoch lassen der weit gefasste Untersuchungsgegenstand und -zeitraum sowie die auffällige Abgrenzung von theologischen Zugängen einige kritische Anfragen zu.
Zunächst werden die kirchlichen Strukturen und religionspolitischen Rahmenbedingungen im Berlin des 18. Jahrhunderts in den Blick genommen, in welche die pastorale Arbeit eingebettet war. Mit dem Geheimen Rat, dem Oberkonsistorium, dem Patronat und der Gemeindebasis werden die entsprechenden administrativen Ebenen auf ihre Aktenlage hin durchleuchtet. Allerdings bleiben wichtige historische Daten ungenannt, die es erlauben würden, die untersuchten Aspekte lesefreundlich in ihrer Entwicklung darzustellen: So spricht der Autor beispielsweise recht unmittelbar von "der Coccejischen Justizreform" (77; vgl. 171), ohne bereits erklärt zu haben, dass damit immerhin die von Friedrich II. angeforderten Reformpläne für eine gründliche Modernisierung der Konsistorialstruktur gemeint sind. Dem roten Faden wären - gerade im Hinblick auf die interessierenden Karrierewege - Datierungen wichtiger Amtsübernahmen zuträglich gewesen, beispielsweise der Aufklärungstheologen August Friedrich Wilhelm Sack oder Johann Joachim Spalding, durch die sich das Profil des Oberkonsistoriums nachhaltig verschieben sollte. Gar nicht erwähnt wird die Einsetzung des lutherischen Konsistorialpräsidenten Ernst Friedemann von Münchhausen im Jahr 1764, der als Chef des Geistlichen Departements von zentraler Bedeutung für die preußische Religionspolitik war. Sicherlich wird die zunehmende Aufklärungsdominanz im Oberkonsistorium quellenbezogen herausgearbeitet, ebenso wie die antiaufklärerischen Bemühungen eines Johann Esaias Silberschlag oder Johann Christoph von Woellner. Doch treten die geschichtlichen Entwicklungsverläufe grundsätzlich hinter systematische Aspekte zurück, was gelegentlich zu Redundanzen führt: Wiederholt müssen etwa die Folgen des Konfessionswechsels beim Kurfürsten Johann (nicht "Joachim") Sigismund im Jahr 1613 angesprochen werden, der trotz der Bikonfessionalität Brandenburgs eine gewisse Privilegierung des reformierten Protestantismus nach sich zog (vgl. 48, 76, 148).
Auch vor diesem Hintergrund trat Preußen mit dem Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1740 bekanntlich in eine Phase der Religionstoleranz im Dienste der Staatsräson, was sachgemäß dargestellt wird. Allerdings verhindert die (an sich legitime) Hypothese, dass die Pfarrer nicht pauschal auf Staatsdiener reduziert werden dürfen, wiederum die Einsicht, dass Staatszweck und religiöse Bestimmung des Menschen im zeitgenössischen Begriff der "Glückseligkeit" einen gemeinsamen Nenner fanden. Grumbach erkennt, dass sich führende Protagonisten der Berliner Pfarrerschaft spätestens unter dem Eindruck des Woellnerschen Religionsedikts vom frühneuzeitlichen Territorialismus abgrenzten. Doch wäre bei der Deutung der Kirche als sakralisierter "Repräsentationsraum" (101-144; v.a. 116) sozialer Realitäten eine Einbeziehung jener neuprotestantischen Differenzierungsfiguren weiterführend gewesen, mit denen Kirche und Christentum in die Öffentlichkeitskultur der Aufklärung eingezeichnet worden sind, anstatt bloß auf die lutherischen Bekenntnisschriften und Zwei-Reiche-Vorstellungen zu rekurrieren. Mit der Grundsatzdistanzierung von der Kirchengeschichtsschreibung bleiben hier einige Türen verschlossen (übrigens auch die soziale Einbindung des jungen Friedrich Schleiermacher in die Berliner Predigerelite des 18. Jahrhunderts).
Im zweiten Teil der Arbeit rücken die Berliner Pfarrer als Schriftsteller und damit als Akteure einer ausdifferenzierten literarischen Öffentlichkeit in den Fokus. Allerdings hätten angesichts der ehrgeizigen Quellenentscheidung (vgl. 36: "alle Schriften, die Autoren publizierten, die zwischen 1690 und 1800 eine Pfarrstelle in Berlin hielten") epochale Hauptwerke wie Spaldings "Betrachtung über die Bestimmung des Menschen" oder Sacks "Vertheidigter Glaube der Christen" (beide ab 1748 mehrfach neu aufgelegt) Erwähnung finden müssen. Auch der Berliner Oberkonsistorialrat Anton Friedrich Büsching leistete vielbeachtete Beiträge, etwa in der von Friedrich Germanus Lüdke angestoßenen Debatte um den Verbindlichkeitsstatus der Bekenntnisschriften (vgl. 340f.). Diese Beiträge sind ebenso repräsentativ im Hinblick auf die breite Diskurspartizipation der Berliner Pfarrer, die der Autor ein "relatives Elitenphänomen" (211) nennt. Sieht man von den angeführten Desideraten ab, so werden die Mechanismen der Selbstrepräsentation und die kommunikativen Schlüsselpraktiken des Pfarramtes auf einer soliden Quellengrundlage untersucht und die sittlich-soziale Vorbildfunktion der Pfarrer kritisch herausgearbeitet. Der entschiedene Berliner Fokus verhindert jedoch letztlich auch die Wahrnehmung jener deutschlandweiten Vernetzung, die manche Berliner Pfarrer in gewisse Konflikte brachte, wie etwa die heftigen Repliken von Johann Melchior Goeze oder Johann Gottfried Herder auf Spaldings Werke zeigen.
Grumbach greift am Ende unter anderem die alte Frage auf, ob die theologische Aufklärung zu einer "Erosion der herkömmlichen Religiosität" (360) geführt hat, und vertritt dagegen die These, dass die Berliner Protagonisten mit den genannten Reformen und Praktiken mehr oder weniger erfolgreich auf die krisenhaften Herausforderungen des Aufklärungszeitalters geantwortet hätten: "Vielleicht sind es gerade diese Anpassungsprozesse zwischen Vormoderne und Moderne, die charakteristisch für das 18. Jahrhundert sind" (380). Ob damit ein innovativer Erkenntnisgewinn vorliegt, wäre angesichts existierender monographischer Studien zu den genannten Berliner Aufklärungstheologen sowie zur friderizianischen Toleranzpolitik und zur Geschichte des Woellnerschen Religionsedikts zu fragen. Auch die Arbeit selbst scheint ihren Beitrag eher in der ventilierenden Gesamtdarstellung zu sehen: Es wird eine Vielzahl von Forschungsparadigmen und Themen aufgerufen, die den Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven beleuchten lässt, aber eine nachvollziehbare, auf wesentliche Entwicklungen konzentrierte Darstellung letztlich erschwert. Dennoch: Indem Grumbach die lutherischen Pfarrer im aufgeklärten Berlin vorrangig als soziale Akteure im frühneuzeitlichen Standesbewusstsein verstehen möchte, findet er die Leitfrage für eine eigene, fundierte Geschichtserzählung, die sich aufgrund intensiver Archivrecherchen bleibende Verdienste erworben hat und die zu weiterer Auseinandersetzung mit dem Thema einlädt. Mit ihr lässt sich Berlin als urbanes Zentrum der Aufklärung neu entdecken.
Marco Stallmann