Ingrid Würth: Regnum statt Interregnum. König Wilhelm, 1247-1256 (= Monumenta Germaniae Historica. Schriften; Bd. 80), Wiesbaden: Harrassowitz 2022, LVIII + 475 S., 10 Abb., 2 Tbl., ISBN 978-3-447-11782-1, EUR 78,00
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Ingrid Würths Habilitationsschrift zu König Wilhelm widmet sich einem Herrscher, der viel zu lange von der Forschung vor allem mit Desinteresse bedacht wurde. Dies war nicht immer so, denn in den 1880er-Jahren erschienen gleich drei Studien zu ihm, von denen die 220 Seiten starke Arbeit von Otto Hintze die bekannteste sein dürfte. Damit war zu Wilhelm scheinbar alles gesagt, zumal eine Edition seiner Urkunden im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica erst 2006 vollständig vorlag. In der Zwischenzeit fristete Wilhelm ein Schattendasein zwischen seinen staufischen Vorgängern und Rudolf von Habsburg als dem ersten Angehörigen der großen Königsdynastien des Spätmittelalters. Die Bewertung von Wilhelms Regierungszeit war dabei von nationalstaatlichen Deutungen und negativen Urteilen geprägt, die über Generationen von Forschenden (hier: Forschern) weitergereicht wurden.
Ingrid Würths Arbeit tritt an, diese Sichtweise zu ändern. Dies beginnt mit der konsequenten Vermeidung der bereits von einem Zeitgenossen pejorativ gebrauchten Herkunftsbezeichnung "von Holland" (abgesehen von einer kontextbedingten Ausnahme; 71). Der König soll als aktiv Handelnder in den Blick genommen und sein Wirken im größeren Kontext der Reichsgeschichte verortet werden. Je nach Sichtweise ist es daher folgerichtig oder entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Arbeit sich auf ihren ersten drei Seiten allein Friedrich II. widmet, da dieser üblicherweise die explizite oder implizite Vergleichsfolie für die Bewertung Wilhelms bildete.
Die Studie gliedert sich in zwei große Blöcke, die durch einleitende Ausführungen (1-25) und ein abschließendes Fazit (438-446) gerahmt werden. Zuerst stehen die königlichen Urkunden als Quelle im Zentrum, über die das Wirken als Herrscher und der Kreis der Unterstützer und Anhänger erschlossen werden (26-206), ergänzt um die gesonderte Betrachtung der Herrschaftsschwerpunkte Holland und der Osten des Reichs (207-325). Der zweite Teil widmet sich der Historiographie (326-437), für die als Periodisierung die Entstehungszeiträume bis zu Wilhelms Tod, bis zum Regierungsantritt König Rudolfs und bis zum Ende des 13. Jahrhunderts gewählt werden. Über diesen Zeitraum hinaus weist ein eigener Abschnitt zur Überlieferung in Holland, der bis ins 16. Jahrhundert reicht.
Die Arbeit konzentriert sich damit ganz auf Wilhelm. Und das ist auch gut so, denn bisher wurde für seine Regierungszeit vor allem der Rheinische Bund, die päpstliche Einflussnahme auf die Reichspolitik und die Ausbildung des Kurfürstenkollegs betrachtet. Diese wichtigen Themen der Reichspolitik werden zwar berührt, aber bewusst nicht näher thematisiert. Dies ermöglicht eine genaue Betrachtung von Wilhelms Handeln als Herrscher, so dass gerade für den Beginn seiner Herrschaft (1247-1249) fast jede einzelne Urkunde gewürdigt wird. Das hierbei insbesondere über die Zeugenlisten herausgearbeitete Netzwerk der Anhänger weist eine kontinuierliche Vergrößerung der Reichweite auf, wofür kirchliche Verbindungen und verwandtschaftliche Beziehungen eine wichtige Rolle spielten.
Für den "inneren Kreis" werden anschließend die rheinischen Erzbischöfe, päpstliche Legaten, Wilhelms "Familie" (Ehefrau und Bruder) sowie sein Kanzler und Justitiar einzeln behandelt. Diese hatten einen wichtigen Einfluss auf den König, die Bindung war jedoch insbesondere bei den aufeinanderfolgenden Erzbischöfen unterschiedlich stark und das Verhältnis nicht frei von Konflikten. Der gewählte Zugriff auf diese Personen bietet den Vorteil, dass die gesamte königliche Regierungszeit in den Blick genommen wird. Aus inhaltlicher Sicht hätten sicher auch andere Personen eine Zuordnung zum 'inner circle' verdient gehabt, etwa Wilhelms Cousin Otto von Geldern, doch treten sie eben nur punktuell als Unterstützer stärker in Erscheinung.
Mit Wilhelms holländischer Politik wird ein Feld behandelt, das in der Forschung oft als reichsgeschichtlich wenig relevant eingestuft, ja teilweise sogar als fehlgeleiteten Einsatz der königlichen Ressourcen für seine 'Erblande' verurteilt wird. Würth stärkt hier die reichsgeschichtliche Perspektive und betont, dass "territoriale[s] Eigeninteresse" (323) nur für einen kurzen Zeitabschnitt vorherrschend gewesen sein könnte. Man könnte auch formulieren, dass Wilhelm bestrebt war, diese regionalen Konflikte auf eine andere Ebene zu heben, wobei die unmittelbare Beteiligung von Reichsangehörigen in den Kämpfen begrenzt gewesen sein dürfte. Für seine Bemühungen um Anerkennung im östlichen Teil des Reichs kann Würth überzeugend aufzeigen, dass es sich bei der Hochzeit mit Elisabeth von Braunschweig 1252 um kein Strohfeuer handelte, sondern diese Bestandteil eines weiterreichenden Ausgreifens war.
Die Behandlung der Historiographie macht deutlich, dass das Wissen von Wilhelms Ende im Kampf gegen die Friesen die Sichtweise seines Königtums insgesamt schon bei zeitgenössischen Autoren entschieden prägte, ein Effekt, der sich nach der Regierungszeit Rudolfs noch verstärkte. In Holland, wo die familiäre Memoria des Königs gepflegt wurde, kam es dagegen nicht zu einer solchen Vernachlässigung, ja aus regionaler Perspektive sogar zu einer Hochschätzung des Königs.
Daneben werden historiographische Quellen vereinzelt schon bei der Behandlung von Wilhelms Wirken als Herrscher angeführt, um die Angaben der Urkunden sinnvoll zu ergänzen. Dies hat allerdings zur Folge, dass die Diskussion der Überlieferung und Glaubwürdigkeit vor allem fallbezogen und nicht übergreifend erfolgt. So bleiben manche Angaben im Ungenauen, wo doch beispielsweise die Schilderung der Krönung bei Johannes de Beka aufgrund ihrer Gesamtkomposition eindeutig ins Reich der Fantasie zu verweisen ist. Einer eingehenden Prüfung bedürften auch die vielfältigen Nachrichten über Angriffe und Anschläge auf Wilhelm, die zwar im Einzelfallfall in Frage gestellt werden können, zusammenfassend aber doch eine deutliche Sprache sprechen - ob für die Herrschaft selbst oder für ihre Sichtweise durch die Chronisten bliebe zu diskutieren.
Gerade an diesen Stellen zeigt sich eine gewisse Neigung Würths, ihren Protagonisten zu verteidigen und alternative Interpretationen aufzuzeigen. Dies ist als bewusster Gegenpol zu früheren harschen und wohl auch vorschnellen Urteilen begrüßenswert und läuft gleichzeitig nie Gefahr, in eine Heldengeschichte abzudriften. Dabei werden neue Deutungen möglich, bei denen sich auf nationale Größe sinnende Historiker früherer Forschergenerationen sicher im Grabe umdrehen dürften. So habe Wilhelm gegenüber den östlichen Reichsfürsten "insgesamt eine realistische Politik" verfolgt, indem er ihre "Territorialisierungsbestrebungen" unterstützte und sie als "Repräsentanten der königlichen Macht" aufbaute (324).
Der klassischen Kategorisierung von Herrschern in stark und schwach, der Würth einleitend eine Absage erteilt (22 f.), kann sich die Arbeit nicht gänzlich entziehen, etwa wenn resümiert wird, Wilhelm brauche "den Vergleich mit seinen staufischen Vorgängern und seinem habsburgischen Nachfolger nicht zu scheuen" (441). Der lohnendste Gegenstand eines solchen Vergleichs, der in der Arbeit für die Urkundentätigkeit insbesondere Friedrichs II. anklingt (124-128), dürfte wohl Konrad IV. sein, der langjährige direkte Konkurrent Wilhelms im Kampf um die Macht im Reich nördlich der Alpen. Unabhängig davon liegt mit dem Werk von Würth schon jetzt eine überzeugende Neudeutung von Wilhelms Regierungszeit und -tätigkeit vor, so dass der angemesseneren Verortung und Bewertung in kommenden Überblicksdarstellungen nichts mehr im Wege steht.
Andreas Büttner