Antal Molnár: Die Formelsammlungen der Franziskaner-Observanten in Ungarn (ca. 1451-1554) (= Analecta Franciscana; XIX), Grottaferrata (Roma): Frati Editori di Quaracchi 2022, XLIX + 773 S., 6 Kt., 7 Farbabb., 7 Tbl., ISBN 978-88-7013-368-4, EUR 110,00
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Formelbücher stellen einen wenig verwendeten und erschlossenen Quellentypus für die Geschichte des mittelalterlichen Europas dar. Als Unterlage der ars dictaminis und der ars notaria liefern die Bücher seit dem 6. Jahrhundert Muster zur Erstellung von Dokumententypen, die verschiedene Rechtsinstitutionen nutzten. Im vergangenen Jahrzehnt hat die internationale Geschichtsforschung den Quellentypus neu entdeckt. Herrschaftliche Kanzleien und kirchliche Einrichtungen stellten im frühen Mittelalter Schriftensammlungen zusammen, die auch private Briefe als Muster zur Korrespondenz enthielten. Insbesondere in jenen Ländern haben Formelbücher als Primärquelle Bedeutung, deren mittelalterliche Quellen großen Zerstörungen ausgesetzt waren, etwa in Ungarn. Die Vernichtung der dortigen kirchengeschichtlichen Quellen wird der osmanischen Eroberung, der Reformation und dem Kommunismus zugeschrieben. Erforschung und Edition der Formelbücher erfolgte in Ungarn bereits seit 1799.
Die Abfassung und Nutzung von Formelbüchern in Mönchsorden kann mit den Zisterziensern verbunden werden (14). Die Eigenarten zisterziensischer Dokumentenmustersammlungen nahmen die Thematik der Formelbücher der Bettelorden vorweg; letztere führten die Schriftkulturreform der Weißen Mönche fort, allen voran Dominikaner und Franziskaner (14). Die von Minderbrüdern geschaffene zentralisierte und strukturierte Organisation sowie das hochentwickelte Verwaltungsschrifttum mit entwickelter Kommunikation waren vergleichbar den Zisterziensern.
Antal Molnár, Direktor des Instituts für Geschichtswissenschaften am Zentrum für Geisteswissenschaften (Budapest) und Mitglied des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften, hat nach mehr als zehnjähriger Forschungsarbeit ("ein Langstreckenlauf, eine einsame Gattung", 6) die Formelsammlungen der ungarischen Franziskaner-Observanten aus den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ediert und als Druckfassung vorgelegt. Insgesamt 878 Dokumente aus vier Kodizes bilden das größte Dokumentenmuster-Corpus religiöser Orden in Ungarn sowie die umfangreichste Franziskaner-Formelsammlung Europas. Für die ungarische Kirchengeschichte ebenso wie die internationale Franziskanerforschung besitzt die Edition herausragende Bedeutung, so dass die 1885 gegründete Reihe der Analecta Franciscana den Text als Band XIX in ihre Veröffentlichungsreihe aufnahm. Die Edition zweier vollständiger Formelbuchmanuskripte und zweiter Manuskriptteile, die die Formelsammlung enthalten, basiert auf drei Quellen der Handschriftensammlung der Széchényi Staatsbibliothek sowie der Franziskanerbibliothek von Gyöngyös.
Die Franziskaner-Observanz stellt die transnationale Ordens- und Glaubensreform italienischen Ursprungs dar, die sich in erster Linie in Mitteleuropa verbreitete und auf vergleichende Weise im religiösen, gesellschaftlichen und politischen Umfeld verschiedener Nationen untersucht wird. Forschungen dazu gelten aktuell als "Starthema" (2) und werden durch die große Zahl von Konferenzen, die in jüngster Zeit organisiert wurden, weiter vorangetrieben.
Molnár stellt seinen ausgewählten Quellen ausführliche monographische Erläuterungen voran, verortet die Formelsammlungen im System der erhaltenen ungarischen Formelbücher, so dass die Schriftlichkeit des Ordens in Ungarn und Europa hervortritt. Er zeigt enge Verbindungen zwischen den ungarischen Franziskanern und verschiedenen Ordensreformen auf. Das besondere Verhältnis zwischen den Eigenarten ungarischer Ordensverwaltung und der humanistischen Bildung wird ebenfalls betont. Die Aufnahme (Anhang) ausführlicher Namenslisten zeichnet ein neues Bild territorialer Schwerpunkte des Auftretens der spätmittelalterlichen Franziskaner-Observanz.
Die Betonung wichtiger Strukturen franziskanischer Wirtschaftspraxis einschließlich der zentralisierten Verwaltung bei außergewöhnlicher Anpassungsfähigkeit kennzeichnen die ungarische Franziskanerobservanz. Franziskanisches "Wirtschaften" ist nicht "wirtschaften" im primären Wortsinn, sondern der Prozess zur Beschaffung und Verwaltung (Transport, Lagerung, Verteilung) von Zuwendungen verschiedener Art und Herkunft. Der widersprüchlichste Punkt der Wirtschaftspraxis war das Verhältnis zum Geld (157, 165).
Auf den ersten rund 200 Seiten der Veröffentlichung wird Einblick in die ungarische Kirchengeschichte, insbesondere des 16. Jahrhunderts, gewährt. Die Seiten 191-656 bilden die Edition der Formelsammlung. Der umfangreiche Anhang (659-765) enthält Namenslisten und Personalstände ungarischer Klöster (70 Ordenshäuser, rund 1700 Fratres, Übersichtskarten sowie Abbildungen der Kodizes, Namens- und Ortsregister sowie die Titelverzeichnisse der Formulare). Die englische und ungarische Zusammenfassung komplettieren das Werk (765-773).
Die vorliegende Arbeit verortet die ungarische Geschichte im Rahmen der europäischen Kultur, in die sie seit langem eingebettet ist. "Ohne die Kenntnis des gemeinsamen geistigen Erbes wäre Europa ärmer und die ungarische Vergangenheit und Gegenwart isolierter und öder" (VII). Entstehung und Herausgabe der Veröffentlichung sind sehr zu loben.
Klaus Wollenberg