Rezension über:

Corinna Kühn: Medialisierte Körper. Performances und Aktionen der Neoavantgarden Ostmitteleuropas in den 1970er Jahren (= Das östliche Europa: Kunst- und Kulturgeschichte; Bd. 11), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 324 S., ISBN 978-3-412-51422-8, EUR 45,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Julia Austermann
Stephanskirchen
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Julia Austermann: Rezension von: Corinna Kühn: Medialisierte Körper. Performances und Aktionen der Neoavantgarden Ostmitteleuropas in den 1970er Jahren, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 1 [15.01.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/01/37358.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Corinna Kühn: Medialisierte Körper

Textgröße: A A A

Corinna Kühn untersucht in ihrer an der Universität Köln entstandenen Dissertation Performances und Aktionen der Neoavantgarden Ostmitteleuropas der 1960er und 1970er-Jahre und ihre Medialisierungen. Dabei richtet sie ihren Blick auf das subversive und widerständige Potenzial künstlerischer Praktiken. Denn auch wenn die Performances und Aktionen überwiegend in privaten oder halböffentlichen Räumen stattfanden, wurden sie mittels Film und Fotografie archiviert, distribuiert und rezipiert und auf diese Weise sichtbar gemacht. Die Medialisierung der Körper spiele, so Kühn, hinsichtlich der Subversivität der Performance- und Aktionskunst der Neoavantgarden eine zentrale Rolle, denn sie lege "ideologische Konstruktionen offizieller Körper- und Menschenbilder in den sozialistischen Gesellschaften offen", oder die Künstler:innen griffen in ihren Aktionen "bestimmte utopisch-revolutionäre Ideen auf und affirmierten sie subversiv" (9). In diesem Kontext begründet die Verfasserin ihre These, "dass der Kunstbegriff durch den Einsatz neuer Medien, den Einsatz des Körpers, durch kollaborative Praktiken und die Verbindung von Kunst und Leben, wie die Integration des Alltags in die Kunst und der Kunst in den Alltag, über den modernen, in Westeuropa und den USA entwickelten und definierten Kunstbegriff hinaus erweitert wurde" (10).

Das Buch gliedert sich, neben der Einleitung und einem Schlusswort, in die drei großen Analysekapitel 2, 3 und 4. Hierin werden fünf ausgewählte künstlerische Positionen aus denen Volksrepubliken Polen und Ungarn, der Tschechoslowakei und der Sozialistischen Republik Rumänien vergleichend betrachtet, die bislang in der Forschung wenig beachtet wurden. Dieser Vergleich ist deswegen aufschlussreich, weil die Voraussetzungen, unter denen die Künstler:innen in den Ländern Ostmitteleuropas wirkten, durch unterschiedliche "Phasen der Liberalisierung oder einer verschärften Freiheitseingrenzung" (24) beeinflusst waren. Positiv hervorzuheben ist das umfangreiche Quellenmaterial, das der Arbeit zugrunde liegt. Im Zentrum stehen vor allem Fotografien und Film-Stills, die Auskunft geben über die Aktionen, aber Kühn zieht auch Interviewauszüge mit den Künstler:innen heran. Wünschenswert wäre es jedoch gewesen, die Kriterien für die Auswahl der analysierten künstlerischen Positionen deutlicher zu formulieren.

Die Verfasserin greift für ihre Untersuchung auf eine interdisziplinäre Methodologie zurück: So finden Methoden der Ikonologie und Ikonografie Verwendung, die sie um Ansätze aus der Medien-, Kultur- und Geschichtswissenschaft ergänzt, darunter die Praxeologie, den historischen Vergleich, die Verflechtungsgeschichte und die Oral Art History. Die Analyse der Performances und Aktionen in den Hauptkapiteln erfolgen, unter Rückgriff auf Erving Goffmans Interaktionstheorie, vergleichend auf vier Ebenen, nämlich mit Hinblick auf 1. den agierenden Körper, 2. den öffentlichen Raum, 3. die interagierenden Kameras und 4. den historischen Kontext.

In Kapitel 2 arbeitet Kühn anhand der Aktionen von Endre Tót im öffentlichen Raum in Ungarn und Jiri Kovanda in der Tschechoslowakei sowie in Westeuropa in den 1970er-Jahren Strategien der "Überidentifikation" und der "affirmative[n] Subversion" (285) heraus, die die Künstler:innen nutzten, um ihre Kritik an der herrschenden Ideologie zu artikulieren. Eine Aufnahme der Aktion "I am glad if I can stand next to you" (1973-1975) zeigt Tót neben dem Lenin-Monument in Budapest. Die Verfasserin begreift diese künstlerische Taktik Tóts als eine Strategie der Überidentifikation beziehungsweise der subversiven Affirmation, die es den Künstler:innen erlaubt habe, "an bestimmten sozialen, politischen oder ökonomischen Diskursen zu partizipieren und sie zu affirmieren [...] und sie dabei gleichzeitig zu untergraben" (63).

Mit Bezug auf Vilém Flussers "Phänomenologie der Geste" arbeitet die Verfasserin zudem "Gesten des Zögerns, des Wartens und der Verneinung" (285) heraus. Hierbei zeigt sie auf, wie die Medialisierung dieser Gesten im öffentlichen Raum und die Verbreitung der Werke über alternative Netzwerke "die scheinbar gescheiterte Interaktion in eine Kommunikation mit einem von [ihr] als zukünftiges bezeichnetes Publikum transformieren" (285). Eine Schwarzweiß-Aufnahme aus dem Jahr 1976 beispielsweise zeigt den tschechischen Künstler Kovanda in wartender Haltung vor einem Wählscheibentelefon (75). Mit Bezugnahme zu Flusser begreift die Verfasserin die Geste des Wartens als "Unmöglichkeit, überhaupt zu kommunizieren" (79).

Auf der Basis der Performances der polnischen Künstlerin Natalia LL und des rumänischen Künstlers Ion Grigorescu, die ohne die Anwesenheit eines Publikums vor der Kamera stattfanden, nimmt Kühn in Kapitel 3 die jeweiligen Produktions- und Rezeptionsprozesse vergleichend in den Blick. Sie fokussiert unter anderem auf den Werkzyklus der "Konsum-Kunst" von Natalia LL (1971-1975), darunter die bekannte Serie, die eine Frau zeigt, die eine Banane isst. Film-Stills der Aktion "Masculin/Feminin" (1976) zeigen Grigorescu, wie er seinen Körper mittels Kamera und Spiegel erkundet und dabei immer wieder intimste Körperzonen entblößt. Die Verfasserin macht so deutlich, wie die Medialisierungen der Körper vor der Kontrastfolie "eines staatlich entworfenen, verordneten und kontrollierten Körperbildes in ihrem jeweiligen Kontext ein subversives Potential entwickeln" (286). Ihre Erkenntnis, "dass in der Performance-Situation bereits imaginär ein zukünftiges Publikum anwesend ist", wird zudem erweitert (286f.).

Die Aktionen des Künstlerduos "KwieKulik" in den 1970er-Jahren werden in Kapitel 4 thematisiert. Sie waren Mitglieder der Bewegung "Neue Rote Kunst", die den Umbau der sozialistischen Gesellschaft forderte. Ihre Aktionen fanden sowohl vor der Kamera als auch vor Publikum statt und waren gekennzeichnet durch ein "Spiel mit der 'Offenen Form'" (287) sowie eine subversive Affirmation, mit der sie ihren künstlerischen Protest zum Ausdruck brachten. In der Performance "Denkmal ohne Reisepass" (1978) beispielsweise verarbeitete das Kollektiv ein Reise-Verbot zu einem Kunstfestival in Holland. In seinen Aktionen griff es immer wieder gezielt auf die "Körpersprache der Propaganda" zurück, um "die offizielle Kultur mit ihren eigenen Mitteln zu konterkarieren" (279). Das Kollektiv betrieb ein eigenes Atelier samt Archiv und sei, so Kühn, ein wesentlicher Multiplikator subversiver Positionen innerhalb der ostmitteleuropäischen Neoavantgarden.

Ihre Leitfrage "Worin genau liegt die Subversivität des agierenden Körpers und der untersuchten künstlerischen Praktiken?" (289) verfolgt die Verfasserin in stringenter Weise in den drei großen Analysekapiteln, und abschließend formuliert sie sieben Kernaussagen: Sie betont das "Verhältnis von Handlung und Kontext [...] für die subversive Wirkung" (289) der Performances und hebt die Rolle privater und halböffentlicher Räume zur Artikulation von Protest in totalitären Systemen hervor. Zudem werde durch die Medialisierung der Aktionen der Werkbegriff erweitert, dabei erhielten dokumentarische Praktiken "in repressiven Systemen einen besonderen Stellenwert", und ihre Medialisierung finde auf verschiedenen Ebenen statt. Dadurch würden "unterschiedliche Öffentlichkeiten" produziert sowie "unterschiedliche Publika" adressiert (289).

Die Arbeit leistet Grundlagenforschung für die Kunstgeschichte Ostmitteleuropas im Bereich der Performance- und Aktionskunst. Positiv zu bewerten ist der vergleichende und transnationale Ansatz, wodurch verflechtungsgeschichtliche Zusammenhänge deutlich werden. Das Buch liefert spannende Impulse und Anknüpfungspunkte nicht nur für die historische Ostmitteleuropaforschung, sondern auch für weitere Disziplinen und Forschungsfelder wie die Medienwissenschaft und die Protestforschung.

Julia Austermann