Rezension über:

Laura Jockusch (ed.): Khurbn-Forshung. Documents on Early Holocaust Research in Postwar Poland (= Archiv jüdischer Geschichte und Kultur; Bd. 6), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 853 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-36856-5, EUR 150,00
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Rezension von:
Anna Ullrich
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Anna Ullrich: Rezension von: Laura Jockusch (ed.): Khurbn-Forshung. Documents on Early Holocaust Research in Postwar Poland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/02/36733.html


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Laura Jockusch (ed.): Khurbn-Forshung

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Das in den letzten Jahren stetig gewachsene Interesse an der frühen Forschung zum Holocaust (oder Khurbn, der jiddische Begriff für Zerstörung) ist sehr erfreulich - aber auch ernüchternd. Erfreulich, weil es den Blick auf Frauen, Männer und Institutionen lenkt, die unmittelbar nach Kriegsende, zum Teil sogar noch vorher, damit begannen, sich mit Fragen der Erinnerung, Überlieferung und Erforschung des Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden auseinanderzusetzen. Ernüchternd vor allem, weil diese frühen Initiativen so lang keine Berücksichtigung in Forschung wie Öffentlichkeit fanden, obwohl sie gleich zweifach relevant waren: Zum einen, weil die methodologischen und theoretischen Überlegungen zur Erforschung des Khurbn sich bereits auf einem Niveau befanden, das dem heutigen erstaunlich nahe ist. Zum anderen, weil sie bereits in den späten 1940er-Jahren durch Interviews und das Sammeln von Quellen Zeugnisse zu Tage förderten, die die vielfältigen Formen der antisemitischen, mörderischen Verfolgung der Nationalsozialisten und ihrer Verbündeten eindrücklich beschrieben.

Es ist Editionen wie Laura Jockuschs "Khurbn-Forshung" zu verdanken, dass zentrale Quellen zur frühen Holocaustforschung in Polen nun in englischer Übersetzung vorliegen. Die Autorin von "Record and Collect. Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe" ist nicht nur eine ausgezeichnete Kennerin der Quellenlandschaft, sondern auch der Geschichte der Historischen Kommission in Polen und ihrer Mitglieder, die sie in einer informativen und hilfreichen Einführung nachzeichnet. Dort finden sich auch nützliche Informationen zu Vorgehen und Auswahl der Quellen sowie zu den Grundsätzen der Edition. Die Quellen sind als Transkript in ihrer Originalsprache (vornehmlich Polnisch und Jiddisch) und als englische Übersetzung verfügbar. Die editorischen Anmerkungen sind transparent, nachvollziehbar und kurzgehalten, was die Lektüre erleichtert.

Die fünfzig Dokumente der Edition sind thematisch in vier Abschnitte unterteilt, die den Entwicklungen und Arbeitsschritten der Kommission vor, während und nach dem Sammeln der Überlebendenberichte zugeordnet werden können.

Der erste Teil, "Emergence of Jewish Holocaust Research and Its Methodology" beinhaltet Protokolle der ersten Treffen der Kommission seit dem Spätsommer und Herbst 1944 in Lublin, in denen es vor allem um organisatorische Fragen des Sammelns ging: Wie sollten die zamler, die Berichte zusammentrugen und Interviews mit Überlebenden führten, instruiert und vergütet werden? Wo sollten die Aufrufe zu den Interviews veröffentlicht werden? Hinzu kommen Artikel, die Mitglieder der Kommission in verschiedenen Publikationen in Polen und deutschen DP-Lagern veröffentlichten und die sich intensiv mit der Bedeutung des Sammelns von Überlebendenberichten für die zukünftige jüdische Geschichtsschreibung auseinandersetzten. Die zum Teil visionären methodologischen Überlegungen, die sich dabei finden, nahmen zentrale Entwicklungen (und Auseinandersetzungen) in der Holocaust-Forschung - gerade in Bezug auf die Bedeutung der Perspektive der Opfer - vorweg. Deutlich wird aber auch, wie groß die Sorge davor war, dass die Erlebnisse und Erfahrungen Überlebender nicht rechtzeitig verschriftlicht werden könnten und für Forschung und Erinnerung eines Tages ausschließlich die Dokumente der Täter zur Verfügung stehen würden.

Den praktischen Folgen dieser methodologischen Erwägungen ist der zweite Abschnitt, "Research Guidlines, Questionnaires, and Calls to the Survivor Public", gewidmet. Hier finden sich Beispiele für Fragebögen, auf deren Grundlage die Gespräche mit Überlebenden stattfinden sollten, zusammen mit zahlreichen Hinweisen über Vorbereitung, Ablauf und Nachbereitung dieser Zusammentreffen. Die zum Teil sehr ausführlichen Fragebögen machen deutlich, dass es der Kommission nicht nur um das einzelne Verfolgungsschicksal ging, sondern die Gespräche auch genutzt wurden, um Informationen über Leben und Alltag von zum Teil komplett zerstörten Gemeinden, Opferzahlen und Namen von Tätern zu erhalten.

Beide Abschnitte helfen, den Kontext zu etablieren, in denen die Berichte entstanden, von denen eine (kleine) Auswahl den dritten Teil, "Survivor Testimonies", bildet. Jockusch hebt bereits in der Einleitung die Unmöglichkeit hervor, mit der Auswahl von 21 Zeugnissen aus circa 3.000 Repräsentativität herzustellen, betont aber das Bemühen, "a broad range of experiences" (53) in den ausgewählten Zeugnissen abzubilden. Tatsächlich geben die Dokumente einen vielfältigen - und oftmals verstörenden - Einblick in die Jahre der Verfolgung. Sie reichen von Schilderungen des Ghettolebens über frühe Beschreibungen aus den Sonderkommandos hin zu den verzweifelten Versuchen, in verschiedenen Verstecken zu überleben. Die Berichte stammen von jüdischen Kindern, Jugendlichen, Frauen (unter ihnen auch Felicja Czerniakowowa, die Witwe des ersten Vorsitzenden des Judenrats des Warschauer Ghettos) und Männern mit unterschiedlichen regionalen, sozialen und religiösen Hintergründen. Sie belegen zum einen die Vielfalt der Verfolgungserfahrungen (die sich häufig auch in den einzelnen Interviews bündelten). Zum anderen zeigen sie auch, wie effektiv die Arbeit der Historischen Kommission war, die diese Zeugnisse oftmals nur Wochen und Monate nach Kriegsende zusammentrug. Daraus ergibt sich eine Unmittelbarkeit des Geschilderten, die auch knapp 80 Jahre nach dessen Niederschrift fortwirkt.

Der vierte und letzte Abschnitt "Research in Ghettos and Camps" enthält neun frühe Forschungsarbeiten zu den Jahren der Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden, die mehrheitlich von Mitgliedern der Historischen Kommission zwischen 1944 und 1948 verfasst wurden. Sie unterstreichen den wissenschaftlichen und aufklärerischen Anspruch der Forschenden, die mithilfe der Interviews, Beobachtungen aus Gerichtssälen, Sichtung von Täterunterlagen und Begehungen der ehemaligen Tötungsstätten die ersten umfassenden Darstellungen über Ablauf, Ausmaß und Folgen des Khurbn im besetzten Polen veröffentlichten. Dabei wurden nicht nur historische, sondern auch soziologische, kulturelle und sprachwissenschaftliche Aspekte berücksichtigt, wie ein Auszug aus Nachman Blumentals "Historical Dictionary - New Words, New Meaning" (Doc. 47) belegt. Blumental zeichnete Entwicklung und Bedeutungswandel verschiedener Begriffe nach, die zum Teil aus der Tätersprache übernommen wurden oder im Verlauf des Krieges neue Zuschreibungen erhielten. Die ausgewählten Dokumente in diesem Abschnitt sind damit ein Beleg für die Interdisziplinarität, die von Beginn an die Forschung zum Holocaust prägte.

Das bemerkenswerteste an dieser immerhin mehr als 800-seitigen Edition ist vielleicht, dass sich die Rezensentin nach der Lektüre vor allem eines wünscht: mehr von solchen hervorragenden Editionsarbeiten, deren Relevanz für Forschung und Vermittlung hoffentlich auch dank der vereinfachten Zugänglichkeit im Open Access von vielen erkannt wird. [1]

Anmerkung:

[1] Siehe: https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-entdecken/geschichte/juedische-geschichte/57235/khurbn-forshung?c=1545

Anna Ullrich