Rezension über:

Chad Bryant: Prague. Belonging in the Modern City, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2021, 332 S., ISBN 978-0-674-04865-2, EUR 27,95
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Rezension von:
Florian Ruttner
Collegium Carolinum, München
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Florian Ruttner: Rezension von: Chad Bryant: Prague. Belonging in the Modern City, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/02/37873.html


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Chad Bryant: Prague

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Der amerikanische Historiker Chad Bryant von der Universität Chapel Hill hat die Stadt Prag schon einmal in einen Buchtitel aufgenommen, davon ausgehend aber ein viel weiteres Feld beackert, nämlich die Auswirkungen der deutschen Besatzung auf den tschechischen Nationalismus. [1] In seinem neuesten Buch widmet er sich erneut Prag, und wieder spannt er den Bogen seiner Untersuchung weiter.

Ausgehend von fünf Personen, die jeweils am Rande der (nicht nur) städtischen Gesellschaft ihrer Zeit standen, versucht er eine Geschichte der Stadt (und manchmal darüber hinaus) seit dem 19. Jahrhundert zu zeichnen: Er beschreibt seine Arbeit als "part urban biography, part individual biography" (8). Dadurch, dass er diese Marginalisierten zu Wort kommen lässt und ihren Sichtweisen Raum gibt, will er "totalizing visions" (8) entgegenwirken, die entweder alles über einen (nationalen) Kamm scheren oder die Vielfalt der modernen Stadt mit nichtsagenden Schlagwörtern verdecken würden.

Zentral sind dabei für ihn die "practices of belonging" (7), also die kulturellen, alltäglichen Praktiken, durch welche die jeweiligen Protagonisten ihre Marginalität reflektierten und zu überwinden suchten. So trägt auch die Kategorie der Zugehörigkeit die Konstruktion des Buches, wobei der Verfasser gerade durch den von ihm gewählten individuellen Zugang zeigt, dass diese Zugehörigkeit gestaltbar ist und keineswegs unveränderbar. Hier kommt die zweite zentrale Kategorie "Vorstellung" zum Tragen: "Thanks to imagination, and to the stories that our characters told, they could picture themselves belonging to various communities while claiming Prague as their home" (13). Vor dem Hintergrund Prags wird so am Beispiel der Marginalisierten entfaltet, wie diese jeweils die Spannung zwischen Partikularität und Allgemeinheit zu lösen versuchten - ein Problem, dessen "significance extends far beyond this magnificent capital city" (8). Auch der Untertitel des Buches weist darauf hin, dass es Bryant um ein allgemeineres Phänomen geht.

Der erste von Bryant vorgestellte Marginalisierte ist Karel Vladislav Zap, der Mitte des 19. Jahrunderts den ersten tschechischsprachigen Reiseführer für Prag, das damals noch als deutsche Stadt galt, verfasste. Mittels dieses Reiseführers sollte die Stadt für tschechische Patrioten als "tschechisch" erfahrbar werden. Spaziergänge wurden zu einer kulturellen Praxis, um sich die Stadt zu erwandern, und stellen so eine der "practices of belonging" dar.

Um die Jahrhundertwende hatte sich durch die Industrialisierung und die damit verbundene Zuwanderung der Charakter der Stadt geändert, und die veränderte Demografie schlug sich auch in der Stadtregierung nieder, in der bürgerliche tschechischsprachige Politiker die Oberhand gewannen, die die Stadt ihren Vorstellungen gemäß modernisierten. Als den Protagonisten dieser Phase wählt der Verfasser Egon Erwin Kisch, der in mehrfacher Hinsicht quer zu diesen Entwicklungen stand: Als deutscher Muttersprachler und aus jüdischem Elternhaus kommend, beschrieb er in seinen Reportagen gerade die unteren Klassen der Stadt. Seine Streifzüge führten ihn nicht nur in Gefängnisse und Armenviertel, sondern auch in die nächtliche Welt der Cabarets und Spelunken. Dort entwarf er eine alternative Vorstellung Prags, die sich gegen die gutbürgerliche richtete, er versuchte "to imagine a city that embraced, rather than obliterated, difference" (98). Bryant bricht Kischs Biografie mit Ende des Ersten Weltkriegs ab, was etwas überrascht, denn sein durchgehender Aufenthalt in Prag endete schon 1913. So bleibt auch sein Engagement in diversen kommunistischen Parteien unerwähnt, was zumindest angemerkt werden sollte, wenn man über seine Prager Schriften sagt, er sei "allergic to direct political action" (104) gewesen. Es wäre auch zu fragen, ob die Interpretation, Kisch habe mit seinen frühen Reportagen Differenzen feiern wollen, nicht deren sozialkritische Stoßrichtung unterschätzen. Damit stünde aber auch die Sichtweise, Kischs Reportagen als Praktiken der Zugehörigkeit zu lesen, in Frage.

Der Umsturz von 1918 bildet den Übergang zum Prag der Zwischenkriegszeit, das durch die Augen von Vojtěch Berger betrachtet wird, einem seit 1918 von der Sozialdemokratie enttäuschten Arbeiter, der sich der Kommunistischen Partei anschloss und über seine Erfahrungen minutiös Tagebuch führte. Diese Aufzeichnungen sind schon öfter als Quelle benutzt worden [2], allerdings konzentriert sich Bryant wieder auf die Frage nach der Praxis der Zugehörigkeit. Für Berger, politisch sozialisiert im Kosmos der Wiener Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende, wurde seit seiner Rückkehr nach Prag wieder die Partei zum Medium des Dazugehörens. In der Stadt, die als Hauptstadt der neuen Republik modernisiert wurde, trugen Arbeitersportvereine und die ersten Spartakiaden maßgeblich dazu bei, dieses Gefühl zu wecken. Auch spazieren gegangen wurde wieder - allerdings auf Demonstrationen, um die Stadt symbolisch zu markieren.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wird anhand des Lebens von Hana Frejková beschrieben, der Tochter von Ludwig Freund, einem der Opfer des antisemitischen Slanský-Prozesses. Hier wird das Dazugehören eher zur Suche nach Nischen vor dem Hintergrund des Stalinismus und später der Normalisierung, in der die Stadt weiter modernisiert und der Massenkonsum angekurbelt wurde. Frejková versuchte diese Nischen zeitweise im Theater zu finden, der Verfasser weist aber auf die Prekarität dieser Versuche hin. Gerade Frejková, deren Familie lange Zeit geächtet war, wollte einfach nur Teil der Gesellschaft sein und hatte Hemmungen, offen kritisch aufzutreten, womit sie in den 1980er Jahren zwischen allen Stühle saß.

Das letzte Kapitel ist der modernen Großstadt Prag der 2000er Jahre gewidmet und nimmt sich Duong Nguyens an, die der vietnamesischen Minderheit der Tschechischen Republik angehört. Ihre Blogs, in denen sie ihre Probleme als eine zwischen zwei Welten Lebende thematisiert, machten sie bekannt und sensibilisierten überhaupt erst Teile der Mehrheitsbevölkerung für dieses Thema. Die neuen Medien, die in diesem Fall die Praxis der Zugehörigkeit darstellen, erleichtern Angehörigen einer Minderheit die Selbstorganisation, auch wenn Bryant die Probleme von Onlinepräsenzen nicht verschweigt: Nguyen wurde schnell selbst zum Ziel rassistischen, virtuellen Mobbings.

Insgesamt ist dem Verfasser ein gut geschriebenes Werk gelungen, das durch die subjektive Perspektive der einzelnen Protagonisten das historische Panorama der Stadt entfaltet und vor dessen Hintergrund die Frage, wie Zugehörigkeit imaginiert und in Praxis umgesetzt wurde, diskutiert. Gerade mit dem letzten Kapitel zu den Konflikten der vietnamesischen Minderheit betritt er dabei Neuland. Aber so innovativ der Zugang auch ist, die Geschichte der Stadt durch die Augen von Marginalisierten gleichsam gegen den Strich zu lesen, so bringt diese Konstruktion doch ein paar Probleme mit sich. So wird z.B. der Nationalsozialismus durch diese Betrachtungsweise an den Rand gedrängt. Kisch, der dazu etwas zu sagen gehabt hätte, war zu dieser Zeit nicht mehr in Prag (und der Verfasser blendet ja seine Karriere nach 1918 aus): Berger versuchte nicht aufzufallen; er führte zwar sein Tagebuch, aber "did not make note of the deportations" (144). So wird die Zeit der Besatzung und der Shoah auf nur rund vier Seiten abgehandelt, wenn auch an anderer Stelle manchmal kurz wieder aufgegriffen. Ob das dem Einschnitt, den diese Zeit bedeutete, gerecht wird, ist fraglich.

Bryants Versuch, eine Einladung "to engage in historical imagination" (14) auszusprechen und zu zeigen, dass es immer alternative Entwürfe gegeben hat, Differenz und Einheit zu versöhnen, ist aber auf jeden Fall gelungen.


Anmerkungen:

[1] Chad Bryant: Prague in Black. Nazi Rule and Czech Nationalism, Cambridge / London 2007.

[2] So zum Beispiel recht ausgiebig bei: Jakub Beneš: Workers and Nationalism. Czech and German Social Democracy in Habsburg Austria, 1890-1918, Oxford 2017.

Florian Ruttner