Peter Bahl: Belastung und Bereicherung. Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945 (= Bibliothek der Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 17), Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2020, XVI + 1718 S., ISBN 978-3-8305-5016-7, EUR 125,00
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Was für ein Buch! Welch große Forschungslücke Peter Bahl ausfindig gemacht hat, zeigt die monumentale Ausgabe zur Geschichte der Vertriebenenintegration in Brandenburg, ein mehr als beachtliches Werk, das auf über 1700 pergamentdünnen Seiten seine Thematik vom Kriegsende bis in die Gegenwart behandelt.
Die Studie ist in drei Teile und einen 339 Seiten umfassenden Anhang gegliedert. Der erste Teil hat einen deskriptiven Charakter und liest sich gleichsam als eine eigenständige Monografie zur Vertreibungs- und Vertriebenenintegration in Brandenburg. Dieser Abschnitt trägt den bescheidenen Titel "Darstellung" und erstreckt sich über 511 Seiten. Den zweiten Teil bildet eine Dokumentation, die regionalhistorische Aspekte der Integration auf Ebene der brandenburgischen Landkreise sowie wichtiger Orte von "Ahrensdorf" bis "Zützen" mit dem Untertitel "Historische Stätten der Vertriebenenintegration in Brandenburg" einschließt (517-972). Der dritte Teil ist eine Quellenedition (975-1378), die Quellentexte aus den Jahren 1945-2018 in sechs Abschnitten präsentiert. Den Anhang bilden ein Glossar, eine Zeittafel (1944-2018), Quellen- und kommentiertes Literaturverzeichnis und ein Register der Orte, Personen und Sachen.
Der Autor betont eingangs, dass "eine dem Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Kriegs- und Nachkriegszeit Brandenburgs angemessene Darstellung im Grunde nur in einer umfassenden (Zeit-)Geschichte dieses Landes möglich wäre" (3), die es aber nicht gebe und deren Erforschung nur mit einem wissenschaftlichen Team gelingen könne. Doch gelingt es ihm, in aller Klarheit deutlich zu machen, mit welcher Vehemenz die Flucht- und Vertreibungsgeschichte sowohl die einheimische als vor allem auch die direkt darin verwickelte Bevölkerung traf.
Bahl will mit seinem Werk eine "Ausgangsbasis für die künftige Forschung" schaffen und bemerkt, dass "viele Kapitel nicht viel mehr als erste Versuche [anzusehen sind], eine Bilanz des bisher Bekannten" (4) darzustellen. Doch einerseits fällt schon dieser Versuch sehr umfangreich aus und andererseits treten dennoch die enormen Forschungslücken immer wieder deutlich zutage. Kaum bearbeitete Forschungsfelder erheblichen Ausmaßes zeigen sich zum Beispiel, wenn der Verfasser darauf hinweist, wie wichtig für vertriebene Brandenburger Verbindungen in die Bundesrepublik oder nach Westberlin gewesen (367) und wie wenig diese untersucht seien. Gleiches gilt für seine Anregung, Friedhöfe und Grabsteine zu dokumentieren und auf Spuren einer gegebenenfalls nicht abgeschlossenen Integration Vertriebener zu untersuchen, oder für seine Frage im Kapitel "Bereicherung", inwieweit Forschungen "auf gleichsam umgekehrte Formen zu achten haben, in denen der Zuwanderer nach einiger Zeit nicht nur geachtet, sondern geradezu als Bereicherung gesehen wurde" (330). Hier zeigt sich die Multiperspektivität von Bahls Ansatz, der die Einbeziehung von sowohl zeitgenössischen Verwaltungsakten als auch zeitgenössischen und nachträglichen Zeitzeugenberichten von Geflüchteten und Vertriebenen, aber auch von Einheimischen, vorsieht.
Zugleich auch zeugt der Umfang des Bandes von einer Herkulesarbeit an Aktensichtung und -bewertung, Ermittlung neuer Quellen, dem Ausweisen von inhaltlichen Zusammenhängen. Das ganze Ausmaß der von Bahl behandelten Themen und Fragen zur brandenburgischen Vertriebenenintegration erschließt sich im Inhaltsverzeichnis, das wohl aus Platzgründen nur die Hauptüberschriften wiedergeben kann, nicht einmal ansatzweise. Erst bei der Lektüre wird der Leser von dem Reichtum der untersuchten Aspekte beinahe überwältigt. Bei der Behandlung der Einzelthemen erläutert Bahl das Allgemeine möglichst anhand ausgesuchter Beispiele des vor Ort je Besonderen. Gelegentlich verbleibt er dabei, auch wegen des Forschungsstands, im Exemplarischen, etwa in den Abschnitten zur "Wohnsituation" mit dem Unterabschnitt zu den "typischen" Lebensbedingungen von Vertriebenen in Barackenlagern - oder etwa zu Partnerschaften brandenburgischer Gemeinden zu "historisch ostdeutschen" Städten. Trotz anderslautender Überschrift verzichtet Bahl im Grunde auf ein "Fazit" seiner Studie. Der letzte Abschnitt behandelt mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation der Vertriebenenthematik in Brandenburg stattdessen eigentlich einen neuen Gedanken, der wiederum an Einzelbeispielen belegt wird. Dass Bahl dort die Integration "der noch in den Vertreibungsgebieten Geborenen" (und offenbar auch der "Vertriebenennachfahren") heute als abgeschlossen ansieht (506), überrascht etwas, da man an anderer Stelle zum Beispiel erfährt, dass sich anhand entsprechender Hinweise auf Grabsteinen erkennen lasse, dass regionale Eigenheiten bewahrt worden seien und sich in diesem Kapitel selbst Hinweise für eine nicht abgeschlossene Integration, zum Bespiel auf dem Brandenburger Land, finden lassen (506f.). Zudem wird nicht recht deutlich, woran sich eine erfolgreiche Integration denn messen ließe.
Tatsächlich ist es schwierig, wenngleich auch reizvoll, ein landesgeschichtliches Gesamtbild aus Bahl Erkenntnissen zu entwerfen. Die Frage etwa zusammenfassend zu behandeln, wie sich die im Buchtitel erwähnten "Belastung" und "Bereicherung" je für die Vertriebenen, für die Einheimischen oder etwa die politisch Verantwortlichen darstellten, wäre bei manchem Leser sicherlich auf Interesse gestoßen. Bahl will seine Studie aber ausdrücklich auch als Plädoyer für eine weiter gehende Erforschung der Landesgeschichte Brandenburgs und der Vertriebenenproblematik verstanden wissen. Und dies gelingt ihm durchaus auf überzeugende Weise, indem er insbesondere zwei Ziele verfolgt. Erstens hält er es völlig zurecht für notwendig, "das Thema [...] in die (brandenburgische) Landesgeschichte einzuführen, [...] da diese sonst unvollständig bleiben muss" (4). Brandenburg ist als Transitregion für enorme Migrationsbewegungen und neue Heimat für Hunderttausende maßgeblich mit der Geschichte von Flucht und Vertreibung verbunden und durch den Verlust etwa eines Drittels seines Territoriums auch selbst in spezieller Weise betroffen gewesen. In Brandenburg mussten - neben anderen bedeutenden Vertriebenengruppen, die Bahl nach Herkunftsgebieten einzeln behandelt - eben auch Brandenburger "integriert" werden, die wie Schlesier oder Ostpreußen Heimat und Besitz verloren hatten, ihr neues Leben aber wohl nicht immer im gleichen Maße "in der Fremde" neu beginnen mussten. Zugleich dürften die Namen von Städten wie Schwiebus, Meseritz, Crossen oder Königsberg in der Neumark den meisten heutigen Lesern kaum noch präsent sein - was allein schon für eine fehlende Reintegration der bis 1945 östlich von Oder und Neiße gelegenen brandenburgischen, heute polnischen Gebiete in die Geschichte des Landes spricht. Somit wäre es sicher hilfreich gewesen, das Buch mit einer Karte auszustatten, auf der zumindest diese Städte, Kreise und Gemeinden verzeichnet sind, und dort dann auch mit ihren polnischen Namen.
Zweitens will der Verfasser "ein im ganzen Land brauchbares und - auch für Schulen und Museen - hilfreiches Nachschlagewerk" (5) vorlegen, das den notwendigen Prozess, "das Vertriebeneneingliederungsthema in die Erinnerungsarbeit und Gedenkkultur von Kommunen stärker zu integrieren und es in Dauerausstellungen von lokalen und regionalen Museen aufzunehmen" (5), unterstützt. Dies erreicht Bahl unter anderem mit einer alphabetisch sortierten Kreis- und Ortsdokumentation, in der statistische Daten, Lagerstandorte, regionale Vertriebenenvereine, wichtige historische Ereignisse im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung sowie maßgebliche Quellen und bibliografische Angaben versammelt sind. Obwohl das Buch mit einem vorbildlichen wissenschaftlichen Apparat ausgestattet ist, dürfte es gerade in der Bildungsarbeit sinnvoll sein, sich die elektronische Version des Buches kostenlos herunterzuladen und die Möglichkeit zu nutzen, umfangreiche Volltextrecherchen durchzuführen. Im Zeitalter des Digitalen fragt man sich aber, ob bei dem großen Datenumfang nicht ein anderes Format nützlicher gewesen wäre, etwa eine Datenbank oder eine Website. Auf diese Weise könnten Ergänzungen vorgenommen und weitere Forschungen erleichtert werden.
Den geografischen Rahmen des Buches bildet im Wesentlichen die Provinz Brandenburg in den (Nachkriegs-)Grenzen des Jahres 1945. Die Beschreibung von Flucht und Vertreibung in den Orten östlich von Oder und Lausitzer Neiße bilden zwar nicht den Schwerpunkt des Buches, werden jedoch umfangreich berücksichtigt (78-146). In jenen Landkreisen befanden sich zum Kriegsende bereits Menschen, die ihre Heimat verlassen hatten, etwa Flüchtlinge aus den östlich von Brandenburg liegenden Gebieten, aber tatsächlich auch aus den westlichen Kreisen der Provinz Brandenburg und aus Berlin, vor allem evakuierte Frauen und Kinder. Dem Autor gelingt es, das Hin und Her der Menschenbewegungen gerade auch aufgrund seiner Quellen eindrucksvoll zu schildern. Die Berücksichtigung der Ereignisse in Berlin hätte das Werk sicherlich gesprengt (5), es sollte aber zukünftig weiter nach Möglichkeiten gesucht werden, Brandenburg und Berlin im Kontext von Flucht und Vertreibung zusammen zu denken und gemeinsam zu erforschen. Bahl zeigt, wie ergiebig es ist, das Los der Geflüchteten und Vertriebenen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft gemeinsam mit dem Schicksal der alteingesessenen Bevölkerung sowie weiterer Gruppen, die zurück in ihre Heimat strebten oder sich in Sicherheit bringen wollten, zu behandeln.
Dieses Buch wird sich bald als Standardwerk für all diejenigen etablieren, die sich mit der Geschichte Brandenburgs im 20. Jahrhundert jenseits von "Preußen und Fontane, Schlössern und Feldsteinkirchen" (5) beschäftigen, insbesondere im Bereich der von Zwangsmigration und Integration geprägten Kriegs- und Nachkriegsgeschichte und den jeweiligen regionalen Folgen. Einer allgemein interessierten Leserschaft bietet es einen facettenreichen Blick auf eine Gesellschaft, für die der Umgang mit den Themenkomplexen "Flucht, Vertreibung, Heimatverlust" nur unter Umgehung von Tabus möglich und gleichzeitig von einer Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung sowie der schwierigen Verarbeitung von Traumata begleitet war.
Magdalena Abraham-Diefenbach, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/O. und Karl-Konrad Tschäpe, Museum Viadrina, Frankfurt/O.