Rezension über:

Carolin Kosuch (Hg.): Anarchism and the Avant-Garde. Radical Arts and Politics in Perspective (= Avant-garde critical studies; Vol. 38), Leiden / Boston: Brill 2020, XIII + 280 S., ISBN 978-90-04-41041-1 , EUR 151,94
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Rezension von:
Sebastian Venske
Erfurt
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Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Venske: Rezension von: Carolin Kosuch (Hg.): Anarchism and the Avant-Garde. Radical Arts and Politics in Perspective , Leiden / Boston: Brill 2020, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 3 [15.03.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/03/34046.html


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Carolin Kosuch (Hg.): Anarchism and the Avant-Garde

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Der von Carolin Kosuch herausgegebene Sammelband entstand im Nachgang einer Konferenz zum Thema Anarchismus und Avant-Garde, ist jedoch kein Konferenzband. Vielmehr versucht Kosuch, das Verhältnis zwischen den beiden Phänomenen, die um 1900 ihre Höhepunkte hatten, tiefer auszuloten und dabei dem Verhältnis von Kunst und politischer Philosophie nachzuspüren.

Der Band verfolgt einen interdisziplinären Ansatz und ermöglicht es dadurch, ein abwechslungsreiches und komplexes Bild der Zeit und des Zusammenspiels zwischen klassischem Anarchismus und künstlerischer wie literarischer Avant-Garde zu zeichnen. Der Band teilt sich in drei Sektionen: "Frictions: Aethetics or Poletics", "Fractions: Declining - Pioneering - Redeeming" sowie "Focal Points: Art and Education in Local and Transnational Settings"; in diesen Kapiteln werden zehn Beiträge präsentiert.

Die erste Sektion beschäftigt sich mit der Avant-Garde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, konzentriert sich auf den französischen Symbolismus und thematisiert die DaDa-Bewegung. In der zweiten Sektion wird das komplexe Verhältnis von Anarchismen mit theo-politischen Strömungen der Jahrhundertwende ausgelotet. Um Vermittlungsformen und einen anarchistischen Anspruch dreht sich die dritte Sektion. So konkretisiert der Band, obwohl er historisch bleibt, das Verhältnis von Anarchismus und den Künsten, vom Abstrakten hin zum Konkreten, der Vermittlung von Kunst und anarchistischen Möglichkeiten in der Vermittlung.

Insgesamt zeigt sich die enge Verbindung zwischen der Avant-Garde und dem klassischen Anarchismus. Damit reiht sich der Band ein in eine Reihe von Publikationen, die dem vermehrten Interesse am Anarchismus in den letzten Jahren Rechnung tragen. Vor diesem Hintergrund fügt sich der von Carolin Kosuch herausgegebene Band sehr gut ein und ergänzt die Forschung mit ihrem Fokus auf das Verhältnis von Anarchismus und künstlerischer Avant-Garde.

Um den Autorinnen und Autoren Freiräume für ihre Beiträge zu ermöglichen, greift Kosuch in ihrer Einleitung auf eine recht offene Definition von Saul Newman zurück, der Anarchismus als "a heterodox and diffuse assemblage of ideas, theories and modes of practice" versteht, die sich um "the ethical and political horizon of anti-authoritarianism, a conviction about the moral inadmissibility of state coercion, and the general belief that the less life is governed the better" drehen. [1]

Eher klassisch halten es Kosuch und ihr Autorenteam mit ihrem Verständnis von Avant-Garde, bei dem sie auf Peter Bürger und Renato Poggioli zurückgreifen. Hier geht es in der Regel nicht viel weiter, als Avant-Garde als abweichende Sozialkritikerinnen und -kritiker zu verstehen, die Innovation auslösen. Obwohl die Beiträge historischer Natur sind, wäre es wünschenswert gewesen, beispielsweise in einer Nachbetrachtung der Herausgeberin oder in den einzelnen Beiträgen selbst zu reflektieren, was die Forschungsergebnisse für das Verständnis von Avant-Garde und Anarchismus bedeuten. Gerade in der Schärfung beziehungsweise Weiterentwicklung des Avant-Garde-Verständnisses auf Basis der Beiträge sehe ich verschenktes Potenzial des Bandes.

Dennoch ist der Sammelband ein sehr guter Beitrag zur Erforschung des Verhältnisses von Anarchismus und Avant-Garde. Dies zeigen die einzelnen Beiträge trotz aller Kritik - beispielsweise Daniela Padularosas "Anti-Art? Dada and Anarchy" aus der ersten Sektion. Padularosa vertieft die bisherige Forschung zu den Anfängen und Einflüssen besonders auf den Züricher Dadaismus. Hierbei zeigt sie nicht nur, dass Dada als ästhetisierter und literarisierter Anarchismus interpretiert werden kann, sondern hebt zu Recht auf die Bedeutung der Sprachkritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den Dadaismus ab. Sie stellt Fritz Mauthners Ansatz heraus, der zwar selbst nicht Anarchist war, aber Gustav Landauer inspirierte. Landauer wurde seinerseits im frühen Dadaismus rezipiert, besonders durch Hugo Ball, der auch in Padularosas Beitrag eine wichtige Rolle einnimmt.

Gabrielle Guerra untersucht Walter Benjamin und Gershom Scholems Überlegungen zu Messianismus, Anarchismus und Avant-Garde; in ähnlichem Fahrwasser, aber mit dem Fokus auf Landauers Zeitvorstellungen, bewegt sich Carolin Kosuchs Beitrag. Beide Autorinnen publizierten Monographien im Themenkreis ihrer Beiträge, diese liegen schon einige Jahre zurück. In den Beiträgen wird deutlich, dass sich der Fokus im Vergleich zu ihren Monographien leicht verschiebt, aber nur punktuell Neues hinzukommt. Das ist zwar bedauerlich, aber sowohl Kosuch als auch Guerra gelingt es, ihre Kernideen überzeugend zu vermitteln und eine andere Facette des Verhältnisses von Anarchismus und Avant-Garde herauszuarbeiten. Im Kontext dieses Sammelbandes ergänzen und bereichern sie die anderen Beiträge also dennoch sehr gut.

Insgesamt haben Carolin Kosuch und die Beitragenden eine wichtige Publikation vorgelegt, die nicht nur den bisherigen Forschungsstand präsentiert, sondern auch Forschungsergebnisse, die neue Erkenntnisse über das Verhältnis von Anarchismus und den Künsten hervorbringen. Dabei liefert der Band auch wichtige Einsichten in die intellektuellen und ideologischen Entstehungsbedingungen moderner Kunst von Symbolismus und Fauvismus bis hin zu DaDa. Das verschenkte Potenzial zur theoretischen Weiterentwicklung insbesondere des Avant-Garde-Verständnisses schmälert die Leistung des Buches nur unerheblich.


Anmerkung:

[1] Saul Newman: Editorial: the Libertarian Impulse, in: Journal of Political Ideologies 16 (2011), 239-244, hier 239.

Sebastian Venske