Deutsches Historisches Museum (Hg.): Karl Marx und der Kapitalismus, Darmstadt: wbg Theiss 2022, 303 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8062-4445-8, EUR 32,00
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Das Schrifttum über Karl Marx und den Kapitalismus wächst ins Uferlose und wird auch für Marx-Kenner immer unübersichtlicher. Zuletzt erschienen 2018 zahlreiche Sammelbände, Biografien und andere Monografien zum 200. Geburtstag des Journalisten, Ökonomen, Philosophen, Sozialtheoretikers oder, wie Theodor Schieder zutreffend bemerkte, des Revolutionärs, der Marx Zeit seines Lebens geblieben war. [1] Diese Einschätzung teilte bereits Friedrich Engels in seiner Londoner Grabrede 1883, ohne dessen unermüdlichen Einsatz das Werk von Marx nicht diese beispiellose globale Verbreitung bekommen hätte.
Umso verdienstvoller erscheint es, dass im Rahmen der Ausstellung "Karl Marx und der Kapitalismus", die 2022 vom Deutschen Historischen Museum in Berlin initiiert wurde, der gleichnamige, interdisziplinär ausgerichtete Begleitband erhältlich ist. Ergänzend zur Ausstellung bietet er nicht nur reichhaltiges Bildmaterial, sondern auch gut verständliche Überblicksartikel zum jeweiligen Topos. Die umsichtige Gliederung des Bandes weist neben der Einleitung der Herausgeber acht Kapitel aus, denen jeweils Ausstellungsobjekte folgen. Erwähnenswert ist auch eine Meinungsumfrage zu Karl Marx von 2021, die sich im Anhang findet. Von den 870 Befragten stehen Marx immerhin 27 Prozent positiv und nur 23 Prozent negativ gegenüber, während 44 Prozent glauben, dass seine Kapitalismuskritik noch immer relevant sei.
Erkenntnisleitend ist die Frage, aus welchen Gründen Marx und sein Werk seit Ende des 19. Jahrhunderts so einflussreich werden konnten und bis heute weltweit rezipiert werden. Den Herausgebern gelang es, namhafte Experten zu gewinnen, die sich präzise und in essayistischer Form von jeweils acht bis zwölf Buchseiten mit den Darlegungen von Marx über Gesellschafts- und Religionskritik, Judenemanzipation und Antisemitismus, Kapitalismusanalyse, Revolution, soziale Kämpfe und Bewegungen sowie technische Innovationen, Natur und Ökologie beschäftigen. Im 21. Jahrhundert, so die Herausgeber, gehe es darüber hinaus auch um die Frage, was die Mechanismen und Prozesse seiner ideologischen und politischen Deutungen, Umdeutungen und Vereindeutigungen aufzuzeigen vermögen.
Den Auftakt dazu markiert die Berliner Philosophin Rahel Jaeggi, die sich mit Entfremdung und Arbeit bei Karl Marx befasst. Darin seziert sie seine ökonomisch-philosophischen Manuskripte. Entfremdung sei das Resultat eines doppelten Enteignungsprozesses, sie sei mehr als der damals konstatierte Sinnverlust des einzelnen Werktätigen, sondern ein Herrschaftsverhältnis, von dem insbesondere eine "fremde Macht", die Besitzer der Produktionsmittel und Profiteure des Konsumkapitalismus, profitierten (33 f.). Der Doppelcharakter von Entfremdung im Lohnarbeitsverhältnis, so die Pointe von Jaeggis Marx-Exegese, sei Freiheits- und Sinnverlust, "Verlust an Freiheit und Verlust von Sozialität" (39).
Entlang so unterschiedlicher Zeitgenossen wie etwa Alphonse Toussenel, Bruno Bauer oder Richard Wagner diskutieren der Zeithistoriker Sebastian Voigt und der Kulturwissenschaftler Gerhard Scheit Facetten von Judenemanzipation und Antisemitismus vor und nach den epochalen 1848er Revolutionen in Europa. Dabei bezieht insbesondere Scheit Marx' Invektiven gegen den Antisemiten Bauer und dessen umstrittene Schrift "Zur Judenfrage" über den "Alltagsjuden" und dessen Funktion in der bürgerlichen Gesellschaft ein (68).
Drei Beiträge befassen sich mit dem Spannungsfeld zwischen Revolution und Gewalt. Nach Auffassung der Politikwissenschaftlerin Anna-Sophie Schönfelder durchzieht eine "Grundspannung" das Werk von Karl Marx (87). Gemeint ist der Widerspruch zwischen emanzipatorischer Gesellschaftstheorie und revolutionärer Praxis. Seine materialistisch gefärbten Prämissen, so mutmaßt Schönfelder, als "Kompass in zeitgenössischen Konflikten zu verwenden, brachten ihm [Marx] bisweilen erhebliche strategische und argumentative Schwierigkeiten ein" (87). Die Autorin untersucht dazu das strategische Problembündnis zwischen den aufkommenden Arbeiterorganisationen und bürgerlichen Kräften im Revolutionsjahr 1848/49, die Gefolgschaft von großen Teilen sogenannter kleinbürgerlicher Kräfte, aber auch von Arbeiter und Bauern für Louis-Napoléon Bonapartes Weg zur Macht sowie das Problem von Marx, neben dem "Proletariat" weitere revolutionäre Akteure, etwa in den Kolonien, zu finden. Dazu korrespondierende Beiträge des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Patrick Eiden Offe und des Historikers James M. Brophy über die Entdeckung des Proletariats als revolutionäres Subjekt durch Marx und dessen politökonomischen Ansatz, die vermeintlich eigene eurozentrische Perspektive durch die Analyse globaler Ereignisse zu erweitern, runden diesen gelungenen Part ab.
Weitere instruktive Essays über neue Technologien (Francois Jarrige), Natur und Ökologie (Bruno Kern), Darlegungen von Marx über Kapitalismus, Krise und modernen Gesellschaften (Harold James, Michael Heinrich, Dirk Baecker) erweitern den Horizont. Während Mitherausgeber Jürgen Herres die unterschiedlichen Rollen von Karl Marx in den politischen Kontroversen ausgehend von den verschiedenen Exilstationen (Köln, Paris, Brüssel, London) einzuordnen versucht, wagt sich die Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz an die Geschlechterfrage heran, die Marx im Rahmen seiner Forschungen zur "Ware Arbeitskraft" und den miserablen Lohn- Arbeitsbedingungen von Frauen und Kindern thematisierte. Unumstritten ist, dass er die Geschlechter- der Klassenfrage unterordnete und sich "nie mit der Frauenfrage 'an und für sich' und 'als solcher' beschäftigt" habe, wie die Sozialistin Clara Zetkin 1903 in der Zeitung "Die Gleichheit" schrieb (221). Zu den Leerstellen bei Marx gehört laut Notz auch seine Ignoranz gegenüber weiblichen Reproduktionsarbeiten "zum Erhalt" der Gesellschaft. Kurz: Außerökonomische Faktoren von Erwerbsarbeit stießen auf sein Desinteresse (221).
Lohnenswertes zur Rezeption und Reichweite von Marx lässt sich in den Abschlussessays finden. Der Ökonom Branko Milanovic verortet die "unvorhersehbare Unsterblichkeit" von Marx' Werk in dessen Vermögen, die "Emotionen und den Intellekt" von Menschen anzusprechen (249), "die unter ganz anderen Bedingungen lebten als die, auf die sich seine Schriften ursprünglich bezogen, und doch blieb die eigentliche Essenz der Ideologie intakt" (246). Dabei spielt Milanovic nicht nur auf die Verbreitung von Marx-Schriften durch Engels, Trotzki, Mao, Hoh Chi Minh und anderen Revolutionären samt deren Organisationen an, sondern rekurriert im Sinne Walter Benjamins auch auf das existentiell-metaphysische Bedürfnis vieler Menschen nach Befreiung oder Erlösung jenseits tradierter Religionen. Gleich diesen liege darin das "Erfolgsgeheimnis" des "Marxismus", dessen dogmatische Lesart Marx zu Lebzeiten kategorisch ablehnte. Revolution und Revolte, Umgestaltung von Herrschafts- und Gesellschaftsverhältnissen - das Vermögen, die Utopie zur Wissenschaft und die Geschichte wie 1789, 1848, 1871, 1905, 1917, 1949 konkret werden zu lassen - damit und aufgrund mindestens zweier ökonomischer Dauerkonstanten seiner Kapitalismusanalyse (Expansions- und Gewinnstreben) wurde Marx nach Milanovic zu einer der populärsten Dauerikonen der Weltgeschichte (250).
Neben diesen fulminanten Darlegungen zur Ursachenforschung des Erfolgs ordnen die Beiträge des Marx-Biografen Jonathan Sperber, des Kommunismusforschers Gerd Koenen und der Historikerin Christina Morina die Zukunftserwartungen von Marx, seine Wirkung auf Russland und China sowie seine Rezeption zum und nach dem Gedenkjahr 2018 ein. Koenens Befund, Marx sei der Erste gewesen, der versucht habe, den Kapitalismus nicht nur als moderne Wirtschaftsweise, sondern als Umwälzung tradierter Gesellschaftsordnungen und Weltvorstellungen zu denken, bringt es nochmals zusammenfassend auf den Punkt. An Marx werden sich auch künftig die Geister abarbeiten und scheiden. Daran lassen die instruktiven Essays zur Ausstellung "Karl Marx und der Kapitalismus" wenig Zweifel. Dieser mit ihr korrespondierende Sammelband eignet sich hervorragend als Einführung, aber auch zur vertiefenden Lektüre in Werk und Wirkung von Karl Marx.
Anmerkung:
[1] Theodor Schieder: Karl Marx. Politik in eigener Sache, Darmstadt 2018, S. 13-15.
Jens Becker