Timo Hagen: Gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen in der Architektur Siebenbürgens um 1900, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2021, 448 S., ISBN 978-3-7319-0635-3, EUR 49,95
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Das umfangreiche, ausführlich bebilderte und in beeindruckender Qualität publizierte Buch basiert auf der 2016 an der Universität Heidelberg angenommenen Dissertation des Autors. Anhand mehrerer Beispiele von um 1900 errichteten Sakralbauten der beiden Städte Brasov (Kronstadt) und Sibiu (Hermannstadt) in der rumänischen Region Transsilvanien (Siebenbürgen) in den südöstlichen Karpaten werden diverse Fragestellungen zu religions- und kulturkreisspezifischer Architekturgenese sowie interkultureller Diversität in einem einst vertrauten und durch politische Entwicklungen heute entfremdeten Kulturraum erarbeitet. Der rund 390 Seiten umfassende Textkorpus ist in fünf Hauptkapitel unterteilt. Die Kapitel Eins und Zwei umfassende, architekturgeschichtliche, methodische und topographisch-historische Einführung in die Thematik ist präzise formuliert und im Verhältnis zum Umfang der Arbeit auf 70 Seiten angemessen dargelegt. In drei ausführlichen Fallstudien werden anschließend drei sakrale Neubauten um 1900 in Hermannstadt und Kronstadt in ihrem bauhistorischen, soziologischen und konfessionellen Umfeld eingehend betrachtet: die evangelisch-lutherische Johanniskirche A.B. nebst Gemeindehaus in Hermannstadt (1880-1883), die neologe (reformorientierte) Synagoge der jüdischen Gemeinde in Kronstadt (1899-1901) und die Metropolitankathedrale der orthodoxen Rumänen Siebenbürgens und Ungarns in Hermannstadt (1898-1906). Die Auswahl der Beispiele folgte nicht Aspekten überregional herausragender gestalterischer Bedeutung, sondern einer lokalen Bedeutsamkeit der Bauvorhaben und ihrer zeitlichen Nähe zueinander. Ihre Genese wird über ihre Gemeindehistorie, alternative Wettbewerbsentwürfe, Vergleichsbauten mit entsprechendem konfessionellen und zeitlichen Status sowie überregionale bauhistorische Einflüsse detailliert aufgearbeitet, wobei Aufbau, Umfang und Fragestellungen der Fallstudien voneinander abweichen und jeweils eigene bauspezifische Fragestellungen entwickeln.
Wer sich daher von der Publikation einen Überblick über die Architektur Siebenbürgens um 1900 verspricht, wird enttäuscht werden. Auch werden keine spezifisch siebenbürgischen Architekturkriterien erarbeitet. Dies entspricht nicht der Intention der Arbeit (18). Vielmehr werden ausgehend von der intensiven Vernetzung Siebenbürgens mit verschiedenen Kulturkreisen zahlreiche Beispiele impulsgebender Bauten sowohl der Region, als auch der Habsburgermonarchie Österreich-Ungarn - insbesondere der Zentren Wien, Budapest und nicht zuletzt Bukarest - betrachtet. Hagen wendet architektonische Stilgenesen allerdings ausschließlich als Hilfsmittel zur Erörterung lokaler Bauentscheidungen jenseits von ikonenbezogener Architekturgeschichtsschreibung an. Vielmehr werden anhand seiner vielschichtigen Analysen die politische, religiöse und soziologische Situation der drei auftraggebenden Konfessionen in zwei kulturell pluralistischen und von zahlreichen Differenzerfahrungen geprägten Großstädten um 1900 historisch und kunsthistorisch umfassend aufgearbeitet. Hierdurch wird Hagens Arbeit im Ganzen selbst zu einem Exempel einer fundiert-stilhistorischen und diskursorientierten Spurensuche.
Die fraglos sehr breite Datenlage der Arbeit, deren Überblick zu wahren dem Leser nicht immer leichtfallen wird, zumal spezifische Fachkenntnisse der Architekturgeschichte an vielen Stellen vorausgesetzt werden, ist nur als Ganzes zu erfassen. Die Darstellung der Bauten bricht zudem mit dem fachlich tradierten Schema der Baubeschreibung, Baudatierung und Bauanalyse zugunsten eines methodischen Zugangs, bei dem ein Gesamtbild des erfassten Objekts auf Basis seiner Planungsgeschichte und nicht seiner Baugestalt erarbeitet wird. Neben akten- und archivbasierten Zuschreibungen sowie akteurspezifischer Baugeschichte(n) bietet Hagens Arbeit zahlreiche soziologische und kulturwissenschaftliche Einblicke in ein spannungsbehaftetes Milieu aus verschiedenen Ethnien und ihrer Religionen. Diese gehörten überwiegend derselben Gesellschaftsschicht des Bildungsbürgertums an und suchten sich infolgedessen mit ihren Bauprojekten im Stadtbild und in der urbanen Gesellschaft zu verankern, zugleich aber waren verschiedene Grade dieser Verankerungsbestrebungen zu berücksichtigen.
"Reflexionen der Differenzerfahrungen siedelten sich [...] in einem breiten Spektrum zwischen der Formulierung von Differenz, dem Versuch, einen Teil der heterogenen Gesellschaft als gegenüber dem Rest abgegrenzte Entität zu definieren und Homogenisierungsbestrebungen an." (15).
Der Wettbewerb um den Schule, Waisenhaus und Johanniskirche umfassenden Lutherhauskomplex in Hermannstadt zwischen 1880 und 1883 bildet den Ausgangspunkt der ersten Fallstudie. Da das Archivmaterial zu der ausgeführten, jedoch bereits 1911/12 wieder abgerissenen Baugruppe eher dünn war, konzentriert sich die Fallstudie auf die Analyse des einzig erhaltenen, jedoch schon in der ersten Sichtung der Einreichungen abgelehnten Entwurfs des lokal ansässigen Architekten Carl Heinrich Eder (1859-1939). Die Zeichnungen sind nicht signiert, konnten von Hagen aber in einer überzeugenden entwurfskritischen Untersuchung Eder zugeschrieben werden (84-86). Anhand der geplanten Disposition des Raums und der Prinzipalien interpretiert Hagen dessen liturgisch-konfessionelle Konzeption als vom Eisenacher Regulativ beeinflusste Bauprogrammatik (89-93). Wünschenswert wäre an dieser Stelle eine kritischere Erörterung des Einflusses eines zu jenem Zeitpunkt bereits in vielerlei Hinsicht kritisierten und nur bedingt akzeptierten Bauprogramms gewesen. Im Verhältnis zu der grundsätzlichen Fragestellung der Arbeit nach den gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen von Architektur irritiert zudem die Ausführlichkeit der Analyse eines schon frühzeitig abgelehnten Wettbewerbsentwurfs als Substitut für fehlendes Material zum realisierten Bau, obgleich Hagen plausibel darlegen kann, dass Eders Entwurf diverse Fragen zur realisierten Baulösung zu beantworten vermag. In seiner genealogischen Spurensuche nach Vorbildern und Einflüssen auf die äußere Gestaltung der Johanniskirche und ihrer Flankenbauten (in Ermangelung von Bildmaterial zur Dokumentation des Innenraums), lässt sich ablesen, wie diese im unmittelbaren geografischen und zeitlichen Umfeld zu ermitteln sind.
Dem gegenüber fällt die Fallstudie der neologen Synagoge in Kronstadt deutlich knapper aus, obgleich Hagen die Historie und die politische Situation der jüdischen Gemeinden in Kronstadt und in Hermannstadt plausibel mit den abweichenden Bau- und Raumkonzepten verschiedener Synagogen im Untersuchungsraum verknüpft. Er bettet die Analyse der Kronstädter Synagoge folglich in eine genealogische Untersuchung der Baugattung in der Region in Anhängigkeit von ihrer spezifischen religiösen Richtung sowie in ihrem Verhältnis zur lokalen Gesellschaft ein. Die Abhängigkeit der Baugestalt von gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen wird in dieser Fallstudie am deutlichsten ablesbar (175-177, 223-232). Zuletzt wird mit der Analyse des Neubaus der rumänisch-orthodoxen Metropolitankathedrale ein weites Feld der Architekturgeschichte betreten, in der die Kulturlandschaft Rumänien in besonderer Weise als noch ungenügend erschlossenes Untersuchungsgebiet eines europäischen Orients herausgearbeitet wird (255). Die hingegen auffällig an der Hagia Sophia in Istanbul orientierte Baugestalt erweist sich als eine aus westlich-moderner Rezeption byzantinischer Bauhistorie gespeiste Neuinterpretation (253, 284, 351), die seinerzeit eine selbstbewusste Positionierung des ambitionierten Baus im europäischen Vergleich bedeutete. Das Fallbeispiel demonstriert damit auf einer ganz anderen Ebene als das Beispiel der evangelischen Johanniskirche die enge kulturhistorische Verbundenheit zwischen West- und Zentraleuropa im 19. Jahrhundert.
Es bleibt abschließend festzuhalten, dass das Buch als lesenswert zu empfehlen ist. Vielschichtige Perspektiven, insbesondere zu Bauten, deren baukultureller Wert als mitunter geringfügig eingestuft wird und ein umfangreicher Kriterienkatalog, nach dem letztlich jedes Bauwerk in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext analysiert und lokalbezogen bewertet werden kann, bereichern fachlich die Methoden der Architekturgeschichte. Zu diesem Kriterienkatalog zählen die Entscheidung für einen Wettbewerb und der Radius seiner Ausschreibung (lokal, national, international), die Auswahl der Jurymitglieder und im Falle der hier besprochenen Sakralbauten der Stellenwert einer Konfession im Kontext zu anderen vertretenen Konfessionen, die hiermit verknüpfte Beeinflussung des Standorts, der baulichen Dimensionen und der äußeren Gestaltung, welche nach Hagen wesentlich deutlicher von lokalen Bezugsgrößen als von überregionalen Vergleichsbauten einer genealogischen Entwicklungsgeschichte abhängig erscheinen. In detaillierten stilhistorischen Spurensuchen lässt Hagen sich von Vorbildern leiten, die der zeitgenössischen Quellenlage und dem zeitbezogenen Diskurs zugänglich waren. Diese Spurensuchen in den regionalen und personenbezogenen Umkreisen sind wichtig und aufschlussreich, doch der ergänzende Blick in seinerzeit verbreitete und allgemein zugängliche Publikationen zur internationalen Baukultur wie beispielsweise Owen Jones' Grammar of Ornament (1856) fällt mitunter zu oberflächlich aus (172, 181-185, 221). Wünschenswert wäre für die Zukunft noch eine Weiterentwicklung der bei Hagen angedeuteten Definition eines europäisch-byzantinischen Baustils und der genealogischen Zuordnung baulicher Details (87, 216-219, 250).
Manuela Klauser