Philip Hoffmann-Rehnitz / Matthias Pohlig / Tim Rojek u.a. (Hgg.): Semantiken und Narrative des Entscheidens vom Mittelalter bis zur Gegenwart (= Kulturen des Entscheidens; Bd. 4), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 523 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-36603-5, EUR 75,00
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Der voluminöse Sammelband ist aus dem 2019 abgeschlossenen Sonderforschungsbereich "Kulturen des Entscheidens" an der Universität Münster hervorgegangen und bildet den vierten Band der gleichnamigen Reihe des SFB. Er präsentiert eine beeindruckende Bandbreite: 23 Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Disziplinen nehmen das Reden über Entscheiden anhand zahlreicher Fallbeispiele aus unterschiedlichen Epochen in den Blick. Die Beiträge sind lediglich grob chronologisch gegliedert in "Semantiken und Narrative des Entscheidens in vormodernen Gesellschaften (Mittelalter und Frühe Neuzeit)" und "in modernen und gegenwärtigen Gesellschaften". Implizit ist in mehreren Beiträgen zudem die Antike als Bezugsrahmen präsent.
Auf 57 Seiten geben die Herausgeberin und die Herausgeber einleitend zunächst einen theoretischen Rahmen und erläutern ihre Absicht, die Geistes- und Kulturwissenschaften in der Entscheidungsforschung stärker zu positionieren, ohne die Terminologie der Decision Sciences zu übernehmen. Das eröffnet sogleich die Problematik, dass einerseits die konkreten Beispiele das Thema des Entscheidens erst mit Leben erfüllen, andererseits eine gemeinsame Begrifflichkeit oder Methodik noch nicht existiert. Wichtige Aspekte, welche die unterschiedlichen Perspektiven, Herangehensweisen und Epochen methodisch zusammenhalten, sind zum einen, "dass nicht alles Handeln Entscheiden sein kann" (21). Zum anderen, dass Entscheiden sich nicht nur im Reden darüber findet, sondern auch in seiner Performanz, ein Ergebnis der "redehandlungstheoretischen Überlegungen", mit denen Tim Rojek den einleitenden Rahmen des Sammelbands ergänzt.
Eine wichtige Leistung des Bandes ist es, die Sicht auf vormodernes und auf modernes Entscheiden einander anzunähern und Unterschiede und Gemeinsamkeiten besser greifbar zu machen. Die (westliche) Moderne scheint zunächst gekennzeichnet durch das eigenverantwortlich entscheidende Individuum. Entscheiden wurde förmlich zum Ereignis mit entsprechender - oft medialer - Inszenierung. Dem modernen Entscheidungsdruck wird eine Vergangenheit gegenübergestellt, in der nicht ständig entschieden werden musste und die eine Kultur des Nicht-Entscheidens kannte. Die verschiedenen Beiträge konturieren und kontextualisieren diesen unterschiedlichen Umgang mit Entscheiden in verschiedenen Epochen, hinterfragen aber zugleich stereotype Entwicklungsnarrative und Epochenklischees.
Franziska Rehlinghaus arbeitet pointiert heraus, wie insbesondere Diskurse in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts das Entscheiden als individuellen Akt stilisierten und dabei äußere Einflüsse ausblendeten. Tatsächlich aber lässt sich gerade in den inszenierten Entscheidungsakten in der Vormoderne wie der Moderne oft etwas ganz anderes erkennen als die ergebnisoffene, freie Wahl zwischen gleichwertigen Möglichkeiten. Martina Wagner-Egelhaaf kontextualisiert die vielfach dargestellte Szene des "Herkules am Scheideweg" zwischen Freude und Tugend. Doch als Held hat Herkules gar keine Wahl. Es geht um die Ästhetisierung des einzig Richtigen, die noch in der religiösen Erbauungsikonographie des 19. Jahrhunderts im "breiten und schmalen Weg" ihren Platz hatte. Solche Beschränkungen des heldenhaften Entscheiders finden sich in verschiedener Weise immer wieder. So war der alleinentscheidende Caudillo im Argentinien des 19. Jahrhunderts in der Sichtweise seiner Selbstdarstellungen, die Stephan Ruderer untersucht, gesetzestreu. Der eigenständig entscheidende Held konnte also in unterschiedlichen Epochen und Kulturen eine Funktion in einem klar definierten Werte- und Ordnungssystem erfüllen, bei der es um diese Werte und Ordnungen ging, nicht um das Entscheiden. Die Narrative des Entscheidens transportieren ohnehin oft die Idee der richtigen und der falschen Entscheidung. Alberto Cadili zeigt, wie bereits beim inquisitorischen Entscheiden in Italien seit 1230 ebenso wie bei den Widerständen dagegen jeweils das Darstellungsmuster der fehlerhaften Entscheidung eine Rolle spielte, nur eben aus unterschiedlichen Perspektiven.
Der Band durchbricht die Vorstellung einer quasi linearen Entwicklung von früheren Epochen, in denen wenig entschieden und wenig über Entscheiden gesprochen wurde, hin zur Moderne, in der das Individuum entscheidet und entscheiden muss. Schon im Spätmittelalter, so Georg Jostkleigrewe, reflektierten philosophische Diskurse auf das Entscheiden und produzierten ein entsprechendes Vokabular - Vorgänge, die auf die Existenz eines Entscheidungshandelns verweisen. Das heißt aber nicht, dass das positive Bekenntnis zum Entscheiden unaufhaltsam wuchs. So verweist Matthias Pohlig darauf, dass auch die Reformation nicht den zwangsläufigen Durchbruch des Narrativs vom autonomen Entscheiden des Individuums brachte, sondern dass die Hinwendung zur Reformation unter anderem als Korrektur einer Fehlentwicklung gedeutet werden konnte. Wirtschaftliche Entwicklungen wurden noch im frühen 18. Jahrhundert nicht als Ausdruck rationalen Entscheidens gesehen, so dass sich die von Philip Hoffmann-Rehnitz untersuchten Narrative zu den ansonsten sehr unterschiedlichen Wirtschaftskrisen Kipper- und Wipperinflation 1622/23 und South Sea Bubble 1720 in dieser Hinsicht immer noch erstaunlich ähnelten. Mit der endgültigen Durchsetzung des Modells vom Individuum, das entscheidet, zeigten sich dann zugleich gegenläufige Tendenzen, die das Individuum je nach Sachlage einschränkten oder entlasteten, seien es formalisierte Verfahren, seien es Narrative der Alternativlosigkeit. So lassen sich letztlich auch die zahlreichen Fallbeispiele des Entscheidens in Moderne und Gegenwart nicht unter ein schlüssiges, gemeinsames Konzept bringen.
Das verweist ein Stück weit auf den Gesamteindruck des Bandes: Bei einem Spektrum, das von der Rolle des Spiels im Entscheidungsnarrativ bei Hartmann von der Aue (Susanne Spreckelmeier) bis zur Entscheidungsfindung bei der Wahl von Ehepartnern im gegenwärtigen Indien (Helene Basu, Mrinal Pande) reicht, lässt sich kaum ein gemeinsamer Fokus erkennen. Die einführenden, konzeptionellen Überlegungen bilden einen wichtigen methodisch-theoretischen Beitrag zu einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Entscheidungsforschung. Sie vermögen aber nicht, die verschiedenen Einzelteile des Bandes zu einer konsistenten Einheit zusammenzuführen. Sie unternehmen keine substantielle Gesamtschau und/oder bieten ein Fazit, während umgekehrt die meisten Beiträge weder auf ein gemeinsames methodisch-theoretisches Konzept noch aufeinander Bezug nehmen. Einige hätten mit einer etwas anderen Begrifflichkeit ebenso gut als Beiträge zur Wissensgeschichte oder zur Mikrogeschichte firmieren können. So stellt sich am Ende die Frage, ob ein strafferer Zuschnitt dem eingangs formulierten Anliegen nicht besser gerecht geworden wäre als eine recht eklektische Anhäufung von als "Bausteine" (14) deklarierten Einzelfällen.
Anuschka Tischer