Volker Caspari (Hg.): Kameralismus und Merkantilismus. Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XXXIX (= Schriften des Vereins für Socialpolitik. Neue Folge; Bd. 115/XXXIX), Berlin: Duncker & Humblot 2022, 201 S., eine Farbabb., eine Tbl., ISBN 978-3-428-18456-9, EUR 89,90
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Der vorliegende Sammelband ist aus einer Jahrestagung des Ausschusses für die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften des Vereins für Socialpolitik hervorgegangen. Zum ersten Mal seit der zweiten Jahrestagung von 1981 beschäftigte sich der Ausschuss wieder mit der Thematik von Merkantilismus und Kameralismus, woran der Vorsitzende und Herausgeber Volker Caspari in einem kurzen Vorwort erinnert. Leider nutzt der Band diese Tatsache nicht zu einer Bestandsaufnahme der bestehenden Forschung und ihres Wandels in den vergangenen vierzig Jahren. Gerade weil sich die dogmenhistorische Herangehensweise - so hieß der Ausschuss ursprünglich - für die vorklassische Ökonomie seit längerem auf dem Rückzug befindet, und einer von Kulturhistorikern dominierten Interpretation Platz gemacht hat, wäre eine systematische Einordnung und Positionierung aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften hoch willkommen gewesen. Stattdessen fällt Peter Spahn gleich mit der Tür ins Haus und stellt mit "Was war falsch am Merkantilismus?" im ersten Aufsatz eine Frage, die den Vertretern der inzwischen dominierenden historisch-kulturalistischen Erforschung frühneuzeitlichen Wirtschaftsdenkens die Haare zu Berge stehen lassen dürfte. Am Ende liegt Spahns Ergebnis trotz anderer Frage und Herangehensweise gar nicht so weit von dem, was man auch anderswo lesen kann. Trotz durchaus bestehender Fehleinschätzungen bestimmter ökonomischer Zusammenhänge betont er eine grundsätzliche Rationalität merkantilistischer Konzepte im Rahmen der frühneuzeitlichen Wirtschaftsordnung. Die Konzentration auf Handelsüberschüsse interpretiert er als Äquivalent erhöhter Staatsausgaben in einer keynesianischen Entwicklungslogik. Für eine Zusammenarbeit von Kulturgeschichte und Volkswirtschaftslehre ergäbe sich daraus die spannende Frage, wie man methodisch und systematisch diese Art der ex-post Rationalisierung mit zeitgenössischen Eigenlogiken in Beziehung setzen kann.
Spahns Aufsatz ist eigentlich der einzige der sieben, der sich mit dem titelgebenden Merkantilismus beschäftigt, alle anderen konzentrieren sich auf den deutschen Kameralismus. Auch in diesem Zusammenhang schmerzt das Fehlen einer systematischen Einleitung, da das komplexe Verhältnis dieser beiden Formationen nicht problematisiert wird. Die Frage, inwieweit ein dogmenhistorischer Zugang beiden in gleicher Weise gerecht werden könnte, wäre eine Erörterung wert gewesen. Zumindest vordergründig scheint der stärkere Bezug merkantilistischer Theoreme auf volkswirtschaftliche Logiken hier deutlichere Anknüpfungspunkte zu bieten als das Konglomerat der kameralistischen Wissensbestände. Die Aufsätze zu letzteren bedienen sich dann auch deutlich weniger einer dogmenhistorischen Methodik als Spahn das tut. Thematisch und methodisch lassen sie sich schwer auf einen Nenner bringen: Manche untersuchen die wirtschaftlichen Ideen einzelner Autoren, andere behandeln konkrete Reformvorhaben oder bewerten den Erfolg staatlicher Wirtschaftspolitik, wieder andere betrachten das Sozial- und Gesellschaftsmodell des Kameralismus. Fast alle Beiträger konzentrieren sich dabei auf einen oder mehrere Referenzautoren, die zusammengenommen ein klassisches who's who ergeben: Justi, Sonnenfels, Seckendorff, Möser, Fr. K. von Moser. Der Focus auf diese zugegebenermaßen wichtig(st)en Autoren ist nicht per se ungeeignet, allerdings kann man durchaus in Frage stellen, wie viel auf diese Weise noch zu 'entdecken' ist.
Das komplexeste Bild des Kameralismus in seiner Gesamtheit zeichnet Birger Priddat, der ihn weit weg rückt von Merkantilismus und sogar Politischer Ökonomie. Stattdessen handele es sich um eine "politische Theorie der Ökonomie" (57) mit den bekannten Zielen der gesellschaftlichen Ordnung und Glückseligkeit. Auffallend ist Priddats Betonung der politischen Rolle des Kameralismus, den er als Vehikel zur materiellen Teilhabe der bürgerlichen Untertanen und als "Fürstenwillkürabwehrregelung" (59) interpretiert; als Ersatz für tatsächliche politische Mitsprache sichere er rechtliche Sicherheit und ökonomische Prosperität zu. Noch höher greift Eduard Braun, der der "Rolle des Merkantilismus bei der Trennung von Staat und Gesellschaft" nachspüren möchte. Er sieht in den Merkantilisten bzw. den im Aufsatz meist zitierten Kameralisten Agenten einerseits moderner Staatsbildung, insbesondere der Überwindung intermediärer Gewalten, und andererseits der Identifizierung und Herausbildung einer staatsfernen Wirtschafts- und Gesellschaftssphäre. Der Liberalismus sei demnach "nur eine Fortsetzung des Merkantilismus" (198). So richtig die Betonung von autonomisierenden Tendenzen etwa gegenüber Priddats etatistischem Bild ist, fehlt dem Beitrag doch die ideenhistorische Spezifizität. Seine Erzählung der Herausbildung des modernen Staates seit dem Investiturstreit, in der die Merkantilisten/Kameralisten in erster Linie als Befreier von "mittelalterlichem Ballast" (198) auftreten, scheut die Mühen der Ebene, wenn jahrhundertelange Entwicklungen zeitlich verkürzt und kausal auf eine nie wirklich definierte Entität Merkantilismus zurückgeführt werden.
Auf ganz anderer Flughöhe bewegen sich Toni Pierenkemper und Rainer Klump. Der inzwischen verstorbene Kölner Wirtschaftshistoriker analysiert das Scheitern der preußisch-friderizianischen Wirtschaftspolitik aus realwirtschaftlicher Sicht. Klump beschäftigt sich mit Reformversuchen und -diskursen in Hessen-Darmstadt. Hier kann man den Kameralismus im Kleinen und Konkreten beobachten, im Kampf gegen Staatsverschuldung, angeblich unfähige Bürokraten und tatsächlich unwillige Fürsten. Im Abstand von 100 Jahren bissen sich Seckendorff und Moser hier die Zähne aus, wobei Klump durchaus den Wandel der jeweiligen Reformkonzeptionen und Umstände thematisiert. Personengeschichtlich orientiert sind dann die Aufsätze von Günther Chaloupek zu Sonnenfels und Tetsushi Harada zu Möser. Chaloupek zeichnet Sonnenfels recht klassisch als Januskopf, der einerseits im Anschluss an Justi das Lehrgebäude der Kameralwissenschaften systematisierte und sich andererseits im Bereich der Wirtschaftstheorie von seinen Vorläufern abwandte und "einer markttheoretischen Sichtweise" vorarbeitete. So richtig alle Beobachtungen zu Sonnenfels sind, funktioniert die Rollenzuschreibung doch nur, wenn man an der Marktfeindlichkeit der vorherigen Kameralisten festhält. Dass man daran durchaus Zweifel haben kann, zeigt Haradas Bild von Justus Möser. Dieser gilt bekanntlich als "Romantiker vor der Romantik" (Salin), der anders als manche Kameralisten keineswegs der kreativen Zerstörung das Wort geredet hat. Dennoch nahm er die Realität der Marktkräfte ernst und versuchte eher, deren Effekte zu kontrollieren, als dem Markt an sich einen Riegel vorzuschieben. So vereint der Band interessante Einzelaufsätze in erster Linie zu deutschen Kameralautoren des 18. Jahrhunderts, ohne diese in ein übergeordnetes Deutungsschema einfügen zu wollen.
Justus Nipperdey