Dominika Grzesik: Honorific Culture at Delphi in the Hellenistic and Roman Periods (= Brill Studies in Greek and Roman Epigraphy; Vol. 17), Leiden / Boston: Brill 2021, XV + 247 S., 11 Kt., 22 Abb., 8 Tbl., ISBN 978-90-04-50247-5, EUR 118,00
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Als panhellenische Kultstätte nahm das Apollonheiligtum von Delphi mit seinem heiligen Bezirk seit der Archaischen Zeit eine zentrale Stellung in der griechischen Welt ein und bot damit ideale Voraussetzungen für die Selbstdarstellung von Gemeinwesen wie auch von Einzelpersonen etwa durch Weihegeschenke oder Ehrenmonumente. Die französischen Ausgrabungen im Bereich des Tempels und des heiligen Bezirkes brachten dabei neben zahlreichen Monumenten auch einen reichen epigraphischen Befund zu Tage. Nach einer ersten Publikation der Inschriften in Band III der Reihe Les Fouilles de Delphes erfolgt die Vorlage des epigraphischen Materials seit 1977 in dem eigenständigen Corpus des inscriptions de Delphes. Bislang leider noch nicht erschienen sind die Teilbände Lois et décrets de la cité de Delphes (CID 6) und tituli honorarii (CID 7).
Die im Folgenden zu rezensierende Studie Honorific Culture at Delphi in the Hellenistic and Roman Periods von Dominika Grzesik, die auf eine an den Universitäten Wrocław und Liverpool entstandene Dissertation aus dem Jahr 2015 zurückgeht, muss deshalb auf den bislang in F.Delphes III sowie in verstreuten Aufsätzen publizierten Inschriftenbefund zurückgreifen. Zugleich widmet sich die gemessen am Umfang des Materials erfrischend kurze Monographie von 178 Seiten mit der Untersuchung der delphischen Ehrenpraktiken in Hellenismus und Kaiserzeit einem bis auf zwei Aufsätze von Henri Bouvier bislang weitgehend unbearbeiteten Thema. [1] In einem weiteren Kontext reiht sich die Studie in die umfangreichen Forschungen zu Euergetismus und Ehrungen in der griechischen Welt ein. Der einleitende Forschungsüberblick wie die Bibliographie lassen insgesamt eine leichte Präferenz für die englischsprachige Forschung erkennen.
Nach einer knappen Einleitung zum Forschungsstand sowie zu Methodik und Aufbau widmet sich die Monographie in sechs Kapiteln verschiedenen Aspekten der delphischen Ehrenpraktiken. Ein Fazit sowie fünf Appendices und vier Indices runden die Studie ab. Die Arbeit folgt dabei zumeist einem klaren Aufbau. Lediglich das vereinzelte Unterkapitel "6.2.1 The Aetolian Zone at Delphi" von zumal lediglich drei Seiten wirkt etwas verloren und wäre besser ohne eigenen Unterpunkt in das übergeordnete Kapitel integriert worden.
Das erste Kapitel bietet zunächst einen Überblick über das vorhandene Quellenmaterial. Im Anschluss an eine generelle Kategorisierung der erhaltenen Inschriften unternimmt Dominika Grzesik dabei auch eine quantitative Auswertung, deren Ergebnisse durch verschiedene Tabellen und Farbdiagramme anschaulich illustriert werden. Der Höhepunkt der epigraphischen Produktion ist demnach im Hellenismus zu verzeichnen. Wünschenswert gewesen wäre in den Tabellen allerdings eine zusätzliche Trennung zwischen tatsächlichen Volksbeschlüssen und den in Delphi in großer Zahl publizierten Kurzzusammenfassungen von Beschlüssen. Die als "Abbreviated Decrees" bezeichneten Inschriften haben in Teilen größere Gemeinsamkeiten mit Ehreninschriften als mit Volksbeschlüssen und hätten in den statistischen Auswertungen zumindest als eigene Kategorie gezählt werden sollen.
Im Anschluss untersucht Dominika Grzesik - illustriert erneut auch durch Tabellen und Graphiken - Entwicklungen und allmähliche Veränderungen bei der Vergabe von Ehrungen durch die Polis Delphi. Neben Umfang und Art der Auszeichnungen werden auch die Empfängerkreise in den Blick genommen. Deutlich spiegeln sich in der Vergabe von Ehrungen die politischen Verhältnisse in Hellenismus und Kaiserzeit: So ist etwa mit der zunehmenden Ausbreitung Roms im östlichen Mittelmeerraum auch in Delphi eine Zunahme an Ehrungen für Angehörige der römischen Führungsschicht zu verzeichnen.
Die insbesondere für den Hellenismus große Zahl an inschriftlich dokumentierten Kurzzusammenfassungen von Proxeniedekreten bilden die Quellengrundlage für die anschließende Untersuchung des delphischen Proxenienetzwerks. Die Inschriften zeigen die Bedeutung der Proxenie als bedeutendes Element der delphischen Außenpolitik und eröffnen einen Blick auf das weitgespannte Beziehungsgeflecht der Polis. Die Karten zur Veranschaulichung der Ergebnisse sind leider von schlechter Qualität und lassen sich, da auch Beschriftungen oder Legenden weitgehend fehlen, oft kaum auswerten. Insbesondere Map 8 (83) ist völlig überfrachtet. Nicht überzeugen mag deshalb auch der Versuch, den Mehrwert der Studie gegenüber der grundlegenden Arbeit von William Mack unter anderem mit der Illustration der Ergebnisse in Karten zu begründen (87). [2] Interessante Überlegungen bietet das Kapitel hingegen zur großen Zahl an inschriftlich bezeugten Proxeniedekreten (68f.): So mögen in Delphi - im Gegensatz zu vielen anderen Städten - die meisten entsprechenden Beschlüsse in der für die Polis typischen Kurzform auch eine dauerhafte Aufzeichnung erfahren haben.
In Ergänzung zu den beiden vorangegangenen Abschnitten nimmt das vierte Kapitel im Anschluss noch einmal die Empfänger von Ehrungen in den Blick und kann dabei mit der Zeit allmähliche Veränderungen im Empfängerkreis feststellen. Während am Beginn des Hellenismus vornehmlich fremde Wohltäter ausgezeichnet werden, erhalten in späthellenistischer Zeit zunehmend auch lokale Honoratioren und erstmals auch Frauen Auszeichnungen durch die Polis. Mit der Ausbreitung der römischen Macht werden zunehmend auch römische Magistrate und Feldherrn sowie in späteren Zeiten auch Kaiser mit Ehrungen bedacht.
Mit einem besonderen Augenmerk auf Sprache und Formularbestandteile analysiert Dominika Grzesik im Anschluss verschiedene Arten von Inschriften zu Ehren von Wohltätern. Ausführliche Analyse erfahren insbesondere die zahlreichen "Abbreviated Decrees" sowie die wenigen ausführlichen Volksbeschlüsse. Den "Tituli Honorarii" wird hingegen nur eine knappe Textseite gewidmet. Wieso die auch in anderen Städten anzutreffende Erwähnung der Polis in den Ehreninschriften eine delphische Besonderheit sein soll, wird dabei leider nicht erklärt (130-132). Auch die Kategorisierung der oftmals auf die nötigsten Informationen beschränkten Kurzzusammenfassungen als Dekrete hätte zumindest einer ausführlicheren Diskussion bedurft. Nicht nachzuvollziehen ist ebenso die zusammenfassende Feststellung, delphische Beschlüsse seien mit dem eigentlich in der gesamten griechischen Welt für Volksbeschlüsse gebräuchlichen Ausdruck ψήφισμα bezeichnet worden (132f.): "Both the Athenians and the Delphians called their decrees psephismata."
Das abschließende sechste Kapitel ist der Verteilung von Inschriften und Ehrenmonumenten im Heiligtum von Delphi gewidmet. Eine Analyse der Inschriftenträger kann - unterstützt durch zwei Diagramme - überzeugend nachweisen, dass die Anbringung von Dekreten im 4. Jahrhundert v.Chr. zunächst auf Stelen erfolgte. Erst ab dem 3. Jahrhundert v.Chr. ist - wohl in Folge von zunehmendem Platzmangel - eine vermehrte Publikation von Inschriften auf Gebäudewänden zu beobachten. Zu wünschen gewesen wäre für dieses interessante Ergebnis allerdings erneut die klare Trennung zwischen ausführlichen Beschlüssen und Kurzzusammenfassungen. In der Analyse der Aufstellungsorte wie der Einzelmonumente zeigt sich daneben die generelle Konkurrenz verschiedener Akteure um größtmögliche Sichtbarkeit. Der Aitolische Bund scheint den westlichen Bereich des Heiligtums sogar als weitgehend exklusiven Bereich für eigene Monumente beansprucht zu haben. Getrübt werden die interessanten Ergebnisse allerdings erneut durch methodische Ungenauigkeiten. So wird die an sich schlüssige Interpretation der östlichen Tempelterrasse als ἐπιφανέστατος τόπος etwa mit der gerade in den entscheidenden Teilen ergänzten Inschrift F.Delphes III, 4, 77, 37-38 belegt (158): [ἀν]αγρ[ά]ψαι δὲ τὸ ψάφισμα τοὺς ἄρχοντα[ς τοὺ]ς ἐν[άρχους ἐν τῶι ἐπιφανεστάτωι τοῦ ἱεροῦ] | τόπῳ.
Auch insgesamt trüben einzelne sachliche Fehler und begriffliche Ungenauigkeiten den Gesamteindruck der Studie. [3] Konsequent falsch verstanden wird insbesondere etwa das Phänomen der "proleptic honours". So sind "proleptic honours" nach der Definition von Marc Domingo Gygax, dessen grundlegender Aufsatz in der Studie keine Erwähnung findet, als "honours granted by a polis to recompense benefactions that had yet to be carried out" zu verstehen und sollen dementsprechend gemäß den Regeln des reziproken Gabentausches einzelne Personen, die bislang noch keine Leistungen für eine Polis erbracht haben, zu künftigen Wohltaten verpflichten. [4] Dominika Grzesik setzt "proleptic honours" hingegen weitgehend mit der hortativen Funktion von Inschriften gleich: "Proxenia inscribed within the Delphic temenos served as proleptic honour, whose task was to encourage other benefactors to put in the effort and gain the honorific title of Delphic proxenos through their benefactions." (Zitat 67. Wörtliche Wiederholungen 86 und 174.)
In der Summe enthält die Studie dennoch interessante Einzelüberlegungen zu den Ehrenpraktiken der Polis Delphi sowie zur Aufstellung von Inschriften und Ehrenmonumenten im Heiligtum. Daneben ist das Buch in jedem Fall eine Anregung, sich mit dem reichen epigraphischen Befund aus Delphi und insbesondere mit den lokalen Besonderheiten der delphischen Inschriften wie etwa den zahlreichen Kurzzusammenfassungen von Dekreten zu beschäftigen. Mit Blick auf die generellen Entwicklungslinien bieten gerade auch die statistischen Auswertungen interessante Ansatzpunkte zur Vertiefung der aufgezeigten Phänomene.
Anmerkungen:
[1] Henry Bouvier: Honneurs et récompenses à Delphes, in: ZPE 30 (1978), 101-118. Henry Bouvier: Hommes de lettres dans les inscriptions Delphiques, in: ZPE 58 (1985), 119-135.
[2] William Mack: Proxeny and Polis. Institutional Networks in the Ancient Greek World, Oxford 2015.
[3] Für eine Auflistung von sachlichen Fehlern siehe auch die Rezension von Anne Jacquemin, in: CR 73 (2023), 210-212, hier: 211.
[4] Marc Domingo Gygax: Proleptic Honours in Greek Euergetism, in: Chiron 39 (2009), 163-191, hier: 163.
Florian Forster